Brain Blah //
Stadt, Land, Frust.

01.02.2016 Leben

stadt land frustGestern Abend habe ich aus gegebenem Anlass mit meinem besten Freund telefoniert, wobei ich eher einen lauten, aufgeregten Monolog hielt, zwanzig Minuten lang, über den für mich größten Grund nie wieder in die Heimat zu ziehen, den Supermarkt. Dieser 200 Quadtrameter weite Raum erscheint mir jedes Mal so vollgepumpt mit geistiger Winzigkeit, dass ich nach jedem einzelnen Besuch gewillt bin, einen Mandala-Malkurs zum Abbau meiner dort binnen weniger Minuten geschürten Super-Aggressionen zu belegen. Es ist ein bisschen wie im Streichelzoo, nur dass man im Angesicht dessen, was sich vor dem Gemüseregal und in den Gängen abspielt, nichts und niemanden streicheln, sondern nur noch weinen will.

Im Grunde bedarf es keiner weiteren Worte der Erklärung, an dieser Stelle kann man der eigenen Phantasie und sämtlichen Klischees getrost freien Lauf lassen, der Querschnitt des menschlichen Wurstsalats der Einöde ist nämlich genau so, wie man ihn sich vorstellt, jedenfalls in meinem Minidorf, das zu einem etwas größeren Dorf gehört, in dem es nochmal ganz anders zugeht. Hier aber wachsen hauptsächlich Beates und Renates, die ihre Einkaufslisten abarbeiten als gäbe es einen Preis zu gewinnen, gibt es ja auch, womöglich vom hungernden Ehemann, Männer sieht man hier im Übrigen kaum, dafür aber Umengen an ordentlich aufgedrehtem Haar, das auf festgefrorenen Gesichtern thront. Dazwischen wird über andere gegackert was das Zeug hält, wer Freund ist und wer Feind, lässt sich nur schwer raten, wer den besten Schwiegersohn hat, weiß man jedoch genau: „Der Micha baut jetzt auch ein Haus, der fährt auch ein schönes Auto, nett ist der,“ sowas hört man häufig. An kaum einem anderen Ort, der mir zugänglich wäre, scheinen die wirklich wichtigen Glücksfaktoren des Daseins so stiefmütterlich behandelt zu werden wie hier, es ist, als beschäftige man sich freiwillig tagein, tagaus mit Oberflächen, mit dem perfekten Gartenzaun zum Beispiel, damit man erst gar nicht Gefahr läuft, über den eigenen Horizont hinaus schauen zu müssen. Am Ende bekäme man noch Lebensdurst oder einfach Lust auf Veränderung und das käme einem sozialen Selbstmord gleich.

Glücklich dazu gehören darf hier nämlich nur, wer der Norm entspricht. Alle anderen übernehmen die Rolle der übel riechenden Esel, die ab und an ein paar Kunststücke aufführen, um das Dasein der ewig Gelangweilten zu erheitern, die ihrerseits zumindest über des dümmsten Esels Scheiße lachen können. Ich bin so ein Esel. Immer dann, wenn ich in Jogginghose und Turnschuhen ratlos vor den Bananen stehe, mit einer Frikadelle am Ohr, weil die entfernte Nachbarin nicht fassen kann, dass das Kind in diesem Neukölln aus der Zeitung aufwachsen muss. Warum ich trotzdem darüber nachdenke, irgendwann in den bis zum Erbrechen engstirnigen Schoß meiner Kindheit zurück zu kehren, oder zumindest in die Nähe, ist ein Rätsel, das sich dennoch lösen lässt: Wegen all der Momente und Menschen, die jenseits der Supermarktkasse warten. Aber zurück zum Anfang.

Mit neun Jahren habe ich gelernt, wie man am geschicktesten Eier klaut, Trecker fährt und Gurken pflückt, mit zehn verspürte ich zum ersten Mal diesen kernigen Schmerz des Stolzes, mir war ein Stück Finger zwischen Baumhaus und Nagel geraten, mit elf machte ich mich zusammen mit den Jungs von Nebenan auf dem Rüben-Anhänger des benachbarten Landwirts auf den Weg über die holländische Grenze, wir waren ausgebüchst und kassierten schnell das größte Donnerwetter unseres noch jungen Lebens, mit zwölf wusste ich, wie man Feuer im Regen und selbstgeschnitzte Flitzebogen macht und mit dreizehn kam die Pubertät.

Bis dahin liebte ich nichts mehr als die wonnige Weite des platten Rheinlandes, die höchstens durch eine Handvoll Windräder am Horizont gestört wurde. Doch dann kam der Hass, der früher oder später jeden ereilt, der dort aufwächst, wo nur vier Mal am Tag ein Bus abfährt. Wo an Schützenfest rumgeferkelt wird bis einer kotzt oder geschieden ist und man eigentlich nichts anderes tun kann, als sich beim Funkyball-Wettkampf die Lichter anzuknipsen, um der Dunkelheit des Kaffs zu entgehen. Eigentlich. Wären da nicht diese Feinheiten, die ich in der Stadt sehr lange suchen musste und manchmal noch immer vermisse. Vor allem waschechte, aufrichtige Menschen, solche, die mir vielleicht nicht sonderlich ähnlich sind, meinem Herzen aber umso mehr. Die lauter über meine Flachwitze lachen als ich auf Kommando rülpsen kann, die nicht nörgeln, weil ich mit dem Rad mal kurz den Bürgersteig schneide, die mit mir schweigen, wenn ich nichts zu sagen habe, die strahlen, obwohl Montag ist und nicht mit den Augen rollen, weil ich langsamer bin als der Rest der Kassenschlange. Am schlimmsten sind all die Rastlosen, die nicht verstehen wollen, dass Freundschaft nicht vom Avocadobrotessen kommt, die Chamäleons, die je nach Bedarf ihre Farbe und Meinung wechseln und überall dort ein wenig Pipi hinterlassen, wo es was zu fressen gibt. Die permanent auf den eigenen Vorteil bedachten Rückgratlosen. Die ewig Gehetzten, die ständig Jammernden, die verzweifelt nach immer mehr Lechzenden.

Stadt, Land, Frust also. Man kann es drehen und wenden und so viel hassen und lieben wie man will – wer beides in sich stecken hat, sollte aufhören zu viel Energie auf Wutadern zu verschwenden, die immer dann am heftigsten pulsieren, wenn der eigene Zaun gerade die meisten blank geputzten Meter misst. Wo ich am Ende alt werde, kann ich noch nicht erahnen, denn eins weiß ich inzwischen: Die ganze Welt ist ein Affenstall. Ich möchte also einfach immer genau da sein, wo meine Lieblingsäffchen sind.

15 Kommentare

  1. Sophie

    Berührt! Einer der besten Texte, die ich seit langem las. Absolute Wahrheiten! Auch wenn ich nicht vom Dorf komme, sondern aus dem Ruhrgebiet – es ist dasselbe.

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  2. Judith

    Nike, wir sind offenbar – wenn auch ganz woanders – im gleichen Dorf aufgewachsen. Wenn ich dann auch mal daheim durch den Supermarkt gelaufen bin, muss sich meine Mutter hinterher von irgendwelchen Frauen aus dem Dorf anhören, was für eine „mutige Frisur“ ich doch hätte.
    Und wenn ich meinen Freund im Schlepptau habe, wird er angeguckt wie ein Aussetziger – kommt nämlich nicht vom Dorf, sondern ursprünglich aus der Kleinstadt nebenan.
    Ich hab für mich die richtige Mischung gefunden: möglichst selten, aber dann sehr sehr lange in der Heimat Urlaub machen und dann die Zeit nur mit einer Handvoll Menschen verbringen, die am besten die eigenen Brüder und die älteste Freundin sind.

    PS: Ihr habt immerhin Busse! Bei uns hängt ein Fahrplan mit Telefonnummer, da der 9-Personen-Bus erst fährt, wenn man anruft und er findet, es lohnt sich, zu fahren.

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  3. Jara

    Es ist tatsächlich beides nervig… auf dem Land hat man so die naturbelassene Engstirnigkeit, in der Stadt treffen sich dann die, die gemeinsam anders engstirnig sein wollen: da geht es dann um andere Oberflächen: Die richtige Kleidung, ein anti-Spießerjob, dass man die richtigen Leute kennt. Usw. Einige aus meinem Freundeskreis definieren sich auf peinliche Art darüber, dass sie in Berlin wohnen. Und dann so: Was dein neuer Freund wohnt in Schöneberg, was isn das für ein Idiot. Daheim ist man dann wieder Exot, weil man keine Milch mag oder so Säcke anzieht. Hahaha. Es ist wie du sagst: am besten macht man was man will und hält sich an die guten Leute. Und die findet man tatsächlich überall, wenn man Glück hat und die eigene Oberflächlichkeit und Engstirnigkeit ein bisschen zurückpfeift. Bis jetzt warst zumindest meist so.

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  4. Tina

    Ich komme auch vom Land, wohne in der Großstadt und hab manchmal auch mehr oder weniger Heimweh! Trotzdem kommen mir im Text zu viele Klischees vor. Avocadobrot vs Hausbau und dann die Erkenntnis, dass Home is where the heart is.

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  5. Lin

    Grandios liebe Nike! Ich muss meiner Vorrednerin zustimmen: Wir scheinen alle im gleichen Dorf aufgewachsen zu sein. Schön, dass es überall gleich ist 😉 Wenn man sich freut, endlich in einer Stadt zu leben, in der die Bahn im 10-Minuten-Takt fährt und das Gefühl hat, die ganz große weite Welt erobert zu haben kommt man doch immer gerne mal zu Mama und Papa an den Ursprung des Nichts zurück und freut sich über den schön gestrichenen Gartenzaun der Nachbarn. 😀

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  6. Jasmin

    Ja, auch ich bin in dem gleichen Dorf aufgewachsen, wie du und meine Vorrednerin. 😀 Der Text ist super geschrieben und es steckt so viel Wahrheit darin.

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  7. Sara

    Ich lebe in einer mittelgroßen Stadt. Nicht zu groß, nicht zu klein. Eben Mittel. Der Supermarkt um die Ecke ist auch Mittel. Das was du als „aufm Land“ empfindest ist auch um die Ecke. Die Mitte der mittelgroßen Stadt aber auch.
    Und jedes Mal,wenn ich mir euren Blog oder andere Großstadt-Blogs und deren Instagram Accounts angucke sehe ich: Avocadogerichte (das arme Gemüseding bekommt momentan ja den gleichen negativen Hauch wie das Wort „Hipster“), rastlose, gehetzte Menschen, die immer auf der Suche nach Trends sind, Meinungen danach ändern (ob Esprit nun wieder hip ist oder nicht, kann man nun eigentlich Schlaghosen tragen und wie viele Trends Farben gibt’s eigentlich in der neuen Dior Lippenstift Serie -bei scalamris Job würde ich regelmäßig an mir selbst zweifeln) und irgendwie nach mehr lechzen (heute eine modelinie und morgen die Welt). Auch wenn ihr das sicherlich nicht so empfindet, so sind die meisten Blogger für mich mittlerweile genau die Art von Menschen, die du oben beschrieben hast.
    Und dennoch muss man sich dafür bedanken, dass ihr mit eurem Teil von dem Leben das ihr führt mir oft wieder das Gefühl gibt, dass mein Leben, in einer mittelgroßen Stadt gar nicht mittelgut, sondern megasuper ist.

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    1. Nike Jane Artikelautorin

      Man guckt den Leuten (zum Beispiel uns) ja auch immer viel lieber vor den Kopf, als in den Kopf. Was viele vergessen: Das hier ist AUCH unser Job. Ich kenne nicht viele Leute, die von ihrem Job nicht manchmal auch gehetzt sind. Aber darum geht es hier nicht. Vielleicht aber ja wirklich einen neuen Text wert, dieses Thema, also danke dir auch <3

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  8. Markus

    Schön geschrieben, liebe Nike. Die schnell gefundene Einfälltigkeit in den Gesichtern des kleinen Dorfes sind zum Glück nur die Fasaden der Menschen, die man genauso oberflächlich kennen möchte, wie sie selber sind.
    Die Menschen, bei denen es sich lohnt tiefer in die Augen zu schauen, findet man, das weisst du selbst, eher selten im Supermarkt.
    Seinen eigenen Platz, an dem man alt werden möchte, findet man, sowohl in der Stadt als auch auf dem Dorf. Er ist genau da wo du dich selber zuhause fühlst und umgeben bist von den Menschen und den Dingen die für dich höchstpersönlich wichtig sind. Dabei sind die Schwierigkeiten der Stadt oder die Oberflächlichkeiten des Dorfes das kleinste Hindernis, man mag sie, oder man mag sie nicht, in keinem Fall sind sie das aufregen wert.
    Das eigene, wohlige Gefühl und die Glücks Momente die du erlebst, sind dafür wohl die besten Anzeichen, dass genug Äffchen in deiner Nähe sind.

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