Brain Blah //
Warum es stark ist, schwach zu sein.

14.06.2016 Wir, Leben

brain blah thisisjanewayne nike van dintherEs ist mir egal, ob mir eine männliche Schulter Trost schenkt, eine weibliche, irgendwas dazwischen oder ob ich selbst eine große Kanne Tee für den stärksten meiner Jungsfreunde brühe. Jeder braucht irgendwann einmal jemanden, der Händchen hält und zuhört und Schlaues sagt. Ich frage mich bloß, weshalb wir so selten danach fragen.

Die meisten von uns schreien lieber das Kopfkissen an als sich vor den Augen anderer einen Moment lang zu verlieren. Wir schlucken Trauer lieber runter und füttern verfressene Magengeschwüre als anderen mit unseren Gedanken auf die Nerven zu gehen, man will ja niemanden belasten. Das Wetteifern um Mitgefühl hört offenbar genau dort auf, wo ein mittelstressiger Job nichtig wird und echte Traurigkeit anfängt. Womöglich, weil es in einer maroden Welt schick geworden ist, innerlich wie äußerlich heile zu sein, beinhart und optimistisch und unkaputtbar.

Schwäche zeigen fällt schwer, zu groß ist die Befürchtung, auf Ewig mit dem Trauerkloß-Stempel gebrandmarkt zu werden, oder schlimmer noch: Dem Fishing for Mitleid-Prinzip bezichtigt zu werden. Besser ist es, die Zähne fest zusammen zu beißen, das Quietschfidel-Lächeln aufzusetzen und tapfer zu bleiben. Etliche Bücher-Bestseller-Listen befeuern noch dazu das Bild des menschlichen Steh-Auf-Männchens: Selbst-Motivation lautet der Tenor. Bloß niemals liegen bleiben. Dachte ich auch immer.

Als Parade-Beispiel der klassischen Profi-Verdrängerin habe ich es streckenweise sogar vollbracht, sämtliches negatives Gefühl vor mir selbst zu verbergen. Nichts kann schließlich als Legitimation zum Weinen dienen, wenn es andere doch noch viel dicker trifft. Und macht nicht erst das Nachdenken richtig unglücklich? Deshalb: Mehr Zusammenreißen, weniger Reinsteigern – bis irgendwann der Knoten platzt. Oder der Kopf. Oder der Bauch. Dabei gibt es von allem ein zu viel, auch zu viel gute Laune.

Vor ein paar Tagen jedenfalls habe ich einen Selbstversuch über das verabredete Gruppenkuscheln gelesen, ich wünschte mir einen weiteren Termin für kollektives Tränen verdrücken herbei. Nicht, weil ich keine Freunde hätte, die mit aller Liebe wischen und Taschentücher halten würden, sondern weil so ein halbanonymes Wolfs-Geheule von ganz tief unten auf regelmäßiger Basis womöglich Wunder vollbringen könnte. Ich habe keine Lust mehr, mir anzuhören, dass es bald besser wird. Ich will leiden dürfen, nicht immer, aber dafür mit Vollgas. Wie wäre es beispielsweise mit fünf Minuten am Tag Zweitausendfuckzehn-Meditation? Ich glaube sogar, das täte uns allen gut, für einen kurzen Moment lang das Gefühl haben zu dürfen, die ärmste Sau der Welt zu sein, um anschließend zumindest ein Stück weit befreit wie Phoenix aus der Asche in den Alltag zu entgleiten. Auch mehr Kommunikation im Alltag, über Zweifel, Ängste und Sorgen etwa, könnten zugleich mehr Aufrichtigkeit und weniger Fassade bedeuten. Im besten Fall sogar mehr Tiefgang, der im Umkehrschluss Platz für echte geteilte Freuden und momenthafte Freundschaften mit Bekannten schafft.

Gut möglich, dass man ohnehin erst so richtig stark ist, wenn man sich endlich getraut hat, voller Innbrunst schwach zu sein. Schämen braucht sich dafür wirklich niemand mehr.

TAGS:

22 Kommentare

  1. MJ

    Liebe Nike,

    du triffst mit deinem Text haargebau meine momentane Stimmungslage…
    „Kopf hoch, wird alles wieder, heul nicht rum, anderen geht es 1000x schlechter als dir, belästige andere nicht mit deiner Trauer, denk positiv, denk positiv, DENK POSITIV!!!!“
    Ich muss den Knoten, der mich hindert, meinen Freundinnen was vorzuheulen, einfach mal platzen lassen…
    Danke dir für meinen persönlichen Motivationstext, sich auch mal scheiße fühlen zu dürfen <3

    Antworten
  2. Hannah

    DANKE liebe Nike!!! Ich leide seit zwei Jahren unter Depressionen und komme immer wieder an den Punkt an dem ich nicht mehr schwach sein möchte, schreien wie ein Löwe und die Welt zu meiner machen. Gar nicht mal so leicht. Für mich zumindest. Trotzdem versuche ich meine Liebsten immer wieder dazu zu ermutigen ein wenig Schwäche zu zeigen. Weil ich weiß, dass das gut tun kann. Manchmal aber auch damit ich nicht die einzige bin.

    Antworten
  3. Rahel

    Ich weine mittlerweile richtig gerne, aus Freude wie aus Trauer oder Wut. Früher konnte ich das nur betrunken. Gefühle zuzulassen ist anstrengend, aber auch echt befreiend 🙂

    ***

    Und ein bisschen Werbetrommelrühren, sorry:
    Helft doch meinem Bruder dabei, mit seiner Band @_patientpatient beim Melt! Festival spielen zu dürfen. Einfach bei Instagram das neueste Video beim @intromagazin liken (https://www.instagram.com/p/BGW_ecLTT2J/). Danke euch!! 🙂

    Antworten
  4. Leni

    Schwierig, das Thema. Ich finde deinen Text wie immer großartig. Er regt zum Nachdenken an. Was mich am meisten stört, ist das gefühlt jeder – auch Freunde – immer schlechter zuhören können, wenn man abartig traurig ist. Man muss ja tatsächlich nicht immer gleich aufgemuntert werden. Ziemlich anstrengend, manchmal fassadenartig. Ich übe gerade selbst, noch emphatischer zu sein.

    Antworten
    1. K

      Nachdem ich vor zwei Jahren einen furchtbaren Liebeskummer hatte und wirklich am Ende war, kann ich das mit den nicht zuhörenden und wenig helfenden Freunden absolut unterstreichen. Nur die wenigsten, nicht mal eine Handvoll, hatten Verständnis dafür, dass ich auch Wochen später immer wieder Zusammenbrüche hatte und mein Herz sich nicht heilen lässt, indem man mir die schönen Söhnen der anderen Mütter in Aussicht stellt.
      Der neue Partner einer Freundin, den ich zuvor noch nie gesehen hatte, erkannte die miese Lage, nahm mich in den Arm und ließ mich einfach heulen. „sometimes all you need is a hug“ waren seine Worte und noch heute bin ich ihm sehr dankbar dafür.
      Mit mir selbst bin ich, nachdem alles überwunden war, auch ins Gericht gegangen und weiß jetzt, dass ich auch nicht die beste Zuhörerin und nicht immer empfänglich für die Schwächen anderer war. Ich hoffe, ich bin jetzt besser darin.

      Antworten
  5. line

    Traurig sein, wütend sein, überhaupt Emotionen wahrzunhemen,zuzulassen und dann auch noch auszudrücken ist gar nicht so leicht. Trau ich mich meistens auch nur im Traum, weil´s an der vermeintlichen glatten Fassade kratzt, womit sich diese Erklärung gerade selbst in die Kniekehle getreten hat. Wütend sein ist genauso ok, wie traurig sein, so lange man nicht unfair denjenigen gegenüber wird, die nichts dafür können. Die meiste Wut hat man nämlich auf sich selbst und katapultiert sie im Eifer des Gefechts aber gern seiner Gesellschaft entgegen. Würde man so alltägliche Aggressionen raus lassen, würden sie sich dann weniger anstauen und seltener im Riesenknall explodieren? Hilft es, das Gefühl vom Pochen in der Stirn und dem Druck unterm Kehlkopf Luft zu machen, anstatt sie herunter zu schlucken oder ist ein ständiges Fluchen und Knurren zu viel für die Umgebung? Ich denk, die kann das ab. Und wenns in kleinen Dosen kommt, ist es doch viel bekömmlicher als in riesen Ladungen ungehaltener emotionaler Ausbrüche, dass die dicke Luft um einen herum nur so vibriert und man sie quasi in Tortenstücke teilen könnte. Let go und jetzt nichts mit Eso-Gequatsche und weg atmen, sondern einfach mal fluchen und jammern. Was raus muss, muss raus.

    Antworten
  6. Karla

    Das sind Krokodilstränen auf Weiß bei instagram, stimmt’s?
    Reaktionen: 371 Mal gefällt’s, 2 Beiträge.

    Alles Liebe.

    Antworten
  7. joanna

    ..und der dazu beste und passendste film: „die kunst des negativen denkens“. Großartig! Unbedingt anschauen, und sich dann im eigenen Elend suhlen. Und das meine ich absolut positiv!

    Antworten
  8. Steffi

    Klasse Artikel! Am „besten“ ist es immer, wenn die Vergleiche mancher Mitmenschen mit der 3. Welt kommen und man meine Sorgen auf die gleiche Stufe stellt wie die verhungernder Kinder… da werden Äpfel mit Pferdeäpfeln verglichen und man bekommt ein schlechtes Gewissen eingeimpft nur weil man mal einen schlimmen Heultag hat. Herrje!!

    LG Steffi / redseconals.com

    Antworten
  9. Steff

    danke nike.vielen vielen dank.

    Ich selbst habe vor zwei wochen eine (meiner persönlichen meinung nach völlg unbegründet) sehr umstrittene entscheidung getroffen.sie gehört nur mir und ich habe davor in meinem umfeld ausschließlich verständnis in form liebster worte entgegen gehaucht bekommen.

    Nun liegt sie hinter mir und ich benötige mehr zeit sie zu verarbeiten als ich dachte.und das hat mich zuerst unendlich verwirrt.warum weinen über etwas, das man völlig frei für sich ausgewählt hat? Warum den menschen mit gefühlen zu einer sache, die so persönlich ist noch länger auf die nerven gehen? Ich hatte plötzlich panik vor zweifeln, albträume und hänge meinem partner noch immer öfter als mir lieb ist als selbstbewusstseinsleeres häuflein in den armen. Und dann wurde mir langsam bewusst:

    Its my party and i cry if i want to.

    Wie schon viele über mir sehr gut geschrieben haben bringt der vergleich mit den problemen anderer nichts oder nur wenig. Er verschlimmert nur das problem.das eigene leben ist zum glück so scheißkomplex, dass es immer wieder krokodilstränenheultage voll verwirrung und wut und trauer mit sich bringt.und die gründe kennen nur wir. Und wenn die tränen alle raus sind sind die augen sauber gewaschen für neue türen, neue entscheidungen, neue fehler und neue erfolge.

    Ich bewundere sarah und dich für das was ihr tut.am meisten für eure stärke in der schwäche. 🙂

    Antworten
  10. Nadine

    Hallo Nike, danke für Deinen mutigen und ermutigenden Post!
    Ich habe ganz oft das Gefühl, dass sich andere Menschen ein Stimmungstief nicht ertragen, dabei gehört es doch genauso zum Leben dazu. Bis vor einigen Jahren war ich selbst eine solche Meisterin der Verdrändung, dass ich wirklich bestimmt 8 Jahre nichtmehr weinen konnte, die Verbindung zu dem Gefühl hat einfach gefehlt. Dafür ging es mir aber ganz beschissen und seit ich gelernt habe wieder mehr Zugang zu meinen wahren Gefühlen zu haben kann ich deutlich besser mit Kriesen umgehen, auch wenn diese mich im ersten Moment aus der Bahn werfen. Aber Trauer, Wut und Enntäuschung sind ja auch gute Bewältigungststrategien, wenn sie nicht zu lange anhalten.

    Antworten
  11. Noa

    Hallo Nike,

    ganz toll dein Text. Ich bin eine derjenigen, die immer ihre Gefühle zeigen. Momentan geht es mir sehr gut, doch an den Tagen, an denen ich z.B. unter ganz schlimmen Liebeskummer litt, flossen die Krokodilstränen sekündlich.
    Ich musste mir ständig anhören, dass es irgendwann genug sein müsste, doch ich habe mich nicht zurückgehalten.

    DANKE! Du bist toll!

    Antworten
  12. Damla

    Gut, dass das mal ausgesprochen wird. Ich habe das Gefühl, dass unsere Generation am Selbstpräsentationswahn leidet und irgendwie gar nicht mehr eine echte Fassade zulässt. Ständig muss man zeigen, wie toll man es hat und sobald man schwächelt, bekommt man es mit der Angst zu tun, dass man dann weg vom Fenster ist. Aber es tut so gut, auch mal über den Scheiß zu sprechen, der einem
    auf dem Herzen liegt. Wenn das erstmal raus ist ebnen sich auch endlich neue Wege zu neuen Zielen und man hat endlich wieder Kraft weiterzumachen, auf eine positive Weise. Danke Nike, dein Brain-Blah ist immer sehr ehrlich und sehr echt.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Mehr von

Related