Kolumne // Ich will so nicht wohnen,
aber vielleicht auch doch.

01.09.2016 Leben, Wohnen

wg leben thisisjanewayneHeute ist Lios erster Kitatag, ich bin nervös, obwohl ja schon ein ganzes Jahr bei seiner Tagesmutter ins Land gezogen ist, aber jetzt sitzt da morgens endgültig kein Buddha-Baby mehr in seinem Hochstuhl-Thron vor mir, sondern ein süßrotziger Frechdachs mit wachen Augen, eigenem Willen und den Pausbacken voll mit Müsli, jetzt wird der kleine Mann plötzlich wirklich groß und mein Drang nach Veränderung noch dazu. Lio und ich, wir sind uns nämlich sehr ähnlich.

Je mehr Menschen sich in unserer direkter Umlaufbahn befinden, desto tiefer ruhen wir in uns, reden müssen wir dabei nicht, wir können sogar ziemlich lange schweigen, genießen immerzu die Abwesenheit von menschlicher Ebbe, Freunde sind unsere Familie, denn die Blutsverwandten sind allesamt 600 Kilometer weit weg. Zu zweit wird uns daheim außerdem schnell langweilig und auch zu dritt. Das gemütliche Familiendasein, wie wir es sonst so kennen, schläfert uns schon nach wenigen Tagen ein, fragt mich nicht weshalb, aber am glücklichsten sind wir stattdessen irgendwo in der Natur oder zwischen Plappermäulern, Picknickdecken und Pastatellern in fremden Küchen. Ich habe deshalb, nach langem Hin und Her, entschieden, dem klassischen Vater-Mutter-Kind-Wohnungsmodell lebe wohl zu sagen. Genauer gesagt habe ich das ja schon vor vielen Monaten getan, aber nun bin ich eben auch dem Freund-von-Mama-Mama-Kind-Modell entwachsen. Ich möchte zurück in eine WG, aus ganzem Herzen.

In eine Erwachsenen-WG, wenn man so will, mit viel Meinung, Charakter, Charme und Melone. Mit spontanen Wein getränkten Nächten für die Großen und Spielgefährten für die Kleinen, mit Ausflügen an die Ostsee und mediterranen Kochduellen. Das hat, entgegen aller Vorurteile, wenig mit dem viel diskutierten Nicht-allein-sein-können zu tun, das kann ich durchaus prima, bloß bin ich mittlerweile der Meinung, dass ich besser darin bin, wenn ich dafür nicht viel mehr tun muss als meine Zimmertür zu schließen. Für die Vorstellung, trotz akuter Ausgeh-Faulheit konstant sozial zu sein, weil ja ohnehin fast immer jemand nebenan, auf dem Balkon oder in der Lebens-Mittelpunkt-Küche verweilt, nehme ich Ordnungs-Fanatin sogar geklaute Straciatella-Joghurtbecher und Zahnpastaspritzer auf Badezimmerspiegeln in Kauf. Ich teile gerne mein Gemüse und auch das Sofa, wenn ich damit dem Optimierungswahn schneeweißer vier Wände entkommen kann und dem Prestige-begründeten Geldverbrennen für noch mehr Quadtratmeter. Ich koche auch gerne heiße Milch mit Honig wenn jemand krank ist, immerzu, und verlange dafür rein gar nichts außer einen glücklichen Mitbewohner. Oder eine Mitbewohnerin, die mir ein Bild zum Geburtstag malt, statt sich bei HAY auszutoben. Ich mag es, permanent an meinem Partner zu kleben, brauche aber gleichzeitig geistigen Ausgleich, wenn möglich eben auch am Frühstückstisch. Gegen Mau Mau Schweitzer Regeln habe ich nach Feierabend auch nichts einzuwenden. Zurück zur Großfamilie also, jedenfalls fast. Ein eigenes Kind reicht mir ja bekanntlich (vorerst). Ganz so familiär bin ich dann nämlich doch nicht. Aber eingeschränkt und eingerostet von zu viel Alltag. Zu viel Konsum. Zu viel Viel.

Ich frage mich tatsächlich immer wieder, wie ihr womöglich auch, wie sich das, was schon immer in mir schlummert, das Zufriedenseinwollen ohne viel Besitz, mit alldem hier überhaupt verbinden lässt. Kommt einem ja vor wie ein schlechter Scherz. Dreißig Paar Schuhe, aber kein Bock mehr auf Juppiesein. Ich habe wirklich keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich das hier liebe und auch jede einzelne Leopardenschlappe in meinem Schrank. Manches möchte ich aber anders machen als gedacht, geplant oder erwartet, bloß ohne Erwartungen, dafür mit Optimismus im Umzugskarton. Denn vielleicht häkle ich irgendwann feiste Katheter-Säckchen mit meinen Rentner-Mitbewohnern, oder auch den jungen, die mit der Zeit dazu gestoßen sind. Gut möglich auch, dass Lio schon bald für mehr Privatsphäre plädiert und ein ernstes Wörtchen mit mir redet. Oder mein Freund. Wenn ich bis dahin nicht schon längst das eigene Handtuch geworfen habe. All diese Eventualitäten jagen mir keine Furcht ein, ganz im Gegenteil, sie machen mich neugierig. Rein da, ins Leben. Es heißt doch, die Welt sei voller Möglichkeiten. Aber in der persönlichen Erfahrung, schrumpfen sie auf eine verschwindend geringe Anzahl zusammen¹. Also ran an die, die uns noch bleiben.

¹David Herbert Lawrence.

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16 Kommentare

  1. Teresa

    Nike! <3 !
    Ich spiele schon seit 2 Jahre (seit sich unsere großartige 5er WG aufgelöst hat) mit dem Gedanken eines "Freundehauses". Da stelle ich mir ein Mietshaus vor (klar mit Garten und Gemeinschaftsräumen, innenstädtisch, die ganze unrealistische Nummer eben) in dem meine Freunde und ich inklusive Liebsten und Kindern leben. Ich stelle mir vor, dass ich vielleicht mal keine Zeit für eine ausgedehnte Nachmittagsaktivität mit jemandem habe (seit wann muss man eigentlich immer "was" machen? Früher ist mein einfach rumgehangen und es war ganz wunderbar) und dann stattdessen einfach mit meiner Kaffeetasse rauf oder runter gehe und die 20 Minuten mit jemandem verbringe der mir am Herzen liegt. Und die Kinder laufen strumpfsockig von Wohnung zu Wohnung, haben Freundegeschwister, eine in-house-Betreuung, andere Erwachsene als Vorbilder/ Paten/ Familienmitglieder.

    I WANT THAT!

    Kussgrüße,
    Teresa

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  2. Mimi

    Das klingt wunderbar!!!
    Und das Wunderbarste ist, dass Du es machst.

    Ich wünsch Dir Seelenglück ❤️

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  3. Susi

    Für mich ist es ein Glück, dass ich viele enge Freudne in der gleichen Stadt habe. Zusammen wohnen wäre mir aber zu eng. Ich brauche viel Alleinsein um sozial sein zu können. Ich denke, da ist jeder anders. Trotzdem finde ich deine Idee ganz toll und glaube, dass es vor allem für Kinder eine wahnsinss Bereicherung ist, so aufzuwachsen.

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  4. Pi

    oooh ja, i feel you, das geht mir genauso! bebe ist auch ruhiger und gelassener, je mehr menschen um uns rumwuseln, zu viel input und reize gibt es für sie kaum, dafür aber schnell zu wenig, das kommt auch hier eindeutig von mama ;D

    auch wir sind ständig auf achse, in der natur, auf dem spielplatz, bei freunden und familie. vor dem kind konnte man seine zeit ja freier einteilen, auch des nächtens noch einfach mit freunden ausbrechen und dann auch allein die ruhe genießen. aber mit kind braucht man da irgendwie echt mehr konstanz und struktur in den sozialen beziehungen: it takes a village to raise a kid. das ist vielleicht kein muss, aber (für uns) auf jeden fall schöner. obwohl wir familie und freunde in der nähe haben, überleg ich auch schon seit längerem, ob es nicht sinnvoller wär, zusammen ein haus oder einen hof zu haben, statt ständig rumtingeln zu müssen. zumal auch hier die haus-preise grad so lächerlich hoch sind, dass man sich mit einem einfamilienhaus-garten-traum finanziell arg festtackern müsste. gut essen, die welt sehen und frei sein für neue lebenswege sollte ja auch noch drin sein.

    wie wir das realisieren steht noch in den sternen – vor der gründung einer epikureischen kommune wird es zum herantasten wahrscheinlich erstmal nur ein gemeinschaftsgarten 😉 aber ich glaub es ist unheimlich wichtig und gut, sich mal mehr gedanken darüber zu machen, was einem wirklich wichtig ist und glücklich macht. und das ist für die menschlichen grundbedürfnisse eher nicht der gesellschaftliche standardentwurf vom tollen eigenheim, und tollem materiellem besitz für sich ganz allein, sondern soziale verbundenheit, anregender austausch und viele möglichkeiten zum inneren wachstum und entdecken der welt – ganz besonders für kinder.

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  5. Flo

    Ich kenne unglaublich viele Leute, die schon oft ueber so etwas geredet haben (speziell in Berlin), aber tatsaechlich niemanden, der es umgesetzt hat. Bin also sehr gespannt wie es bei dir laufen wird 🙂

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  6. Alice

    1, zwo, 3 – und schon hast du meinen Lebenstraum zu Wort gebracht. Ein guter Freund von mir ist genau in so einem Umfeld aufgewachsen. Er liebte es und ich bin mir sicher, dass es Lio gleich gehen wird. Halt uns auf dem Laufenden du Liebe!

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  7. Katja

    Tolle Idee, aber hast Du Dir nicht gerade die Wohnung komplett neu eingerichtet? Ziehst Du wirklich aus, aus Deiner gerade wunderbar schönen, ganz neu eingerichteten Wohnung, obwohl Du schon seit Monaten über eine WG nachdenkst und ausziehen willst? Warum dann der ganze Aufwand mit dem Umräumen und den neuen Möbeln?

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  8. Amelie

    Ach Nike, ich verstehe den Zwiespalt zwischen Modemädchen und Müslitante so sehr! Ich selbst schwanke auch regelmäßig und hänge zwischen den Stühlen. Frage mich, wie ich überhaupt zu all dem Modekram gekommen bin und trockne meine Teeblätter selbst, um danach mein Net-a-Porter Paket voller Glücksgefühle auszupacken mit den Schuhen, die ich seit Monaten beobachte und die ich mir endlich geleistet habe. Ich finde die Kombination eigentlich sehr schön und die WG klingt mehr als wunderbar. Go for it! Ich bin gespannt.

    Liebst, Amelie

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  9. Jo

    Super! Mach das! Lieber früher als später! Darum mein weiser Rat: KEIN Hausprojekt, das dauert Jaaahre, bis das wird. Ich bin als Kind auch in so einer WG groß geworden und habe noch immer ein wohlig-warmes Gefühl, wenn ich an all die tollen, großen Menschen denke, die damals um mich waren und mich bis heute begleiten. Ja, es braucht ein Dorf ! Ich wünschte, ich hätte das mit meinen Kindern auch so gemacht. Jeder sitzt in seinem schicken Wohnzimmer und sehnt sich nach Gesprächen – und niemand wagt den Schritt. Tu es und schreib drüber, ich bin gespannt! <3

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  10. Jeanae

    Uii! Das klingt aber nach einer ganz schön verrückten Idee! 🙂
    Nachdem ich in meiner Studienzeit in fünf WGS gelebt habe, dann im Berufsstart nochmal in zwei, würde ich nicht mal für eine Million meine nun endlich EIGENE, schöne Wohnung aufgeben, um mir sowas wieder anzutun.

    Aber da hat ja jeder andere Erfahrungen gemacht…ich wünsch dir jedenfalls viel Erfolg! Obwohl auch ich mich einer meiner Vorkommentatorinnen anschließen muss und es bedauern würde, so eine tolle Wohnung wie deine herzugeben 😉

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  11. Anna

    Vor 25 Jahren fragte mich eine Freundin (78 Jahre alt), „Wie willst Du leben?“. Und die Antwort kam damals schnell und spontan „Im Rudel“. Heute wäre es immer noch meine Antwort. Lebe mit Kind (15J,) Mann, Freunden und Großvater in einem Haus mit Garten und Dachgarten mitten in einer Stadt. Jeder hat seinen eigenen Bereich, aber auf allen Wohnungen stecken die Schlüssel. Kann das „Rudelleben“ nur empfehlen.

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  12. Masha

    Ich glaube das klingt in der Fantasie manchmal romantischer, als es in der Realität ist.

    In der Realität nerven einen dann so Kleinigkeiten und man ärgert sich über den nicht gemachten Abwasch, aber wer weiss, vermutlich wird man da mit Kind eh viel entspannter 😀

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