Books that saved & shaped my life // Mit Emilia von Senger

09.10.2019 Buch, box3

Ich kann mich noch penibel genau an den Moment erinnern, in dem ich zum allerersten Mal über Emilia von Sengers Instagram-Kanal stolperte, innegehalten habe ich da, gestöbert und gestaunt und dann wie wild meine Händen geschüttelt, vor Aufregung, beide gleichzeitig, das Handy auf den Knien vor mir liegend und mit weit aufgerissenen Augen in Raum herum blickend, als würde ich die ganze Welt herwinken wollen, auf dass auch ganz bestimmt alle sehen würde, worüber ich mich gerade so sehr freue: Nämlich über Emilia und ihre Bücher, über diese junge Frau aus Berlin, die exakt die gleiche Literatur wie ich zu schätzen schien und die mir fortan die reinste Lese-Inspiration sein sollte. Weil: Jeder Tipp ein Treffer, ausnahmslos. 

Wie schön also, dass Emilia für einen Moment ihren Blick von all den wunderbaren Zeilen und Seiten lösen konnte, um uns heute zu verraten, welche der zig gelesenen Bücher sie bisher denn wohl am meisten geprägt haben, welche Werke sie liebt und für immer weiterempfehlen wird. 

Emilia von Senger hat ein deutsch-französisches Studium der Politikwissenschaft (Stuttgart und Bordeaux) absolviert und anschließend drei Jahre an unterschiedlichsten Projekten zur Förderung von Chancengleichheit gearbeitet. Anfang August des letzten Jahres blieb Emilia aufgrund einer Art Burn Out fünf Monate zu lang zu Hause. In dieser Zeit waren da vor allem: Bücher. Sie las und las und las und veröffentlichte ihre Literaturkritik schließlich (und zum Glück!) auf Instagram. Es folgte, als logische Konsequenz, ein neuer Job im Buchladen (Kiezbuchladen in Friedrichshain – Lesen und lesen lassen) – und nun der Traum, irgendwann einen eigenen Buchladen aufzumachen. Ich mache dann mit, liebe Emilia, ja? Achja, und: Emilia fotografiert nicht nur viel, sondern auch gern – am liebste ihre Schwester Stella.

„On the road“ von Jack Kerouac

 

2011 sind mein Bruder Max, meine Schwester Stella und ich zum ersten und (bisher) einzigen Mal zu dritt verreist. Wir waren alle frisch verliebt und sind trotzdem drei Wochen nach Brasilien abgehauen. Mein Bruder hatte On the road dabei, nach ihm haben Stella und ich es verschlungen. Nichts hätte besser zu unserer Stimmung passen können: einfach losfahren, dem Zufall folgen, den Moment leben, nicht an Berlin denken.

Kerouacs rasend rhythmischer Roman, seine Beschwörung des Reisens an sich, war, das glaube ich heute, unser wichtigster Begleiter. In Hängematten liegend und schwitzend haben wir uns Stellen vorgelesen und uns gefragt, wer unserer Dean Moriarty ist. Dieser Freund oder diese Freundin, die uns zu Abenteuern anstiftet, uns fasziniert und immer wieder überrascht. Die uns aber auch ein bisschen beunruhigt, weil sie verschwinden oder uns verletzen könnte.

„Die Glasglocke“ von Sylvia Plath

[typedjs]„Es war ein verrückter, schwüler Sommer, dieser Sommer, in dem die Rosenbergs auf den elektrischen Stuhl kamen und ich nicht wußte, was ich in New York eigentlich wollte.“ [/typedjs]

Die Glasglocke ist immer noch DAS Buch. Ich habe es mit 26 zum ersten Mal gelesen, dann im letzten Jahr nochmal und würde es gerne jedes Jahr wieder lesen. 1963 unter Pseudonym veröffentlicht, erzählt es von einer jungen Frau, die ein begehrtes Praktikum bei einem Modemagazin in New York gewinnt. Dinner für Dinner entfremdet sie sich immer weiter von der Gesellschaft. Wie Plath das schildert, ist leicht, komisch und traurig zugleich. Im zweiten Teil wird die Protagonistin mit einer schweren Depression in eine Klinik eingewiesen. Auch Plath litt ihr Leben lang unter Depressionen, wenige Wochen nach Erscheinen der Glasglocke hat sie sich umgebracht.

Sylvia Plath schreibt über Erwartungen an Frauen – ein Thema, dass immer noch unglaublich aktuell ist und mich sehr beschäftigt. Das Lesen von The Bell Jar war für mich augenöffnend. Mir wurde klar, dass mir ein distinktiv weibliches Erleben der Welt, der female gaze, in meiner bisherigen Lektüre fast vollkommen fehlte. Seitdem lese ich viel mehr, wenn nicht hauptsächlich, Autorinnen.

„Mach’s gut Du“ von Ebba von Senger und Etterlin

Von allen Büchern, die ich ausgewählt habe, ist dieses das persönlichste. Ebba war meine Großmutter. Sie hatte seit ihrer Geburt einen schweren Herzfehler, 1978 wurde ihr schließlich eine Schweineherzklappe eingesetzt. Als sie nach der gefährlichen Operation aufwachte, entschied sie ihre Erinnerungen aufzuschreiben, in der Hoffnung ihre Enkel und Urenkel würden sie eines Tages lesen. Mach’s gut du erschien 1981 in kleiner Auflage bei Piper.

Eigentlich, und das habe ich erst beim zweiten Mal lesen verstanden, verabschiedet sich Ebba mit diesem Buch von zwei geliebten Brüdern. Einer ist im Krieg gefallen, der andere wurde bei der Feldarbeit vom Blitz erschlagen. In zart und charmant erzählten Episoden, fast Anekdoten, erinnert sie sich an ihre Brüder und andere Figuren ihrer Kindheit in Schwebda, einem kleinen Dorf in Nordhessen. In ihrer knappen Sprache erzählt sie „von lichten und auch dunklen Tagen“, spart die Verbrechen Nazi Deutschlands und die Härte des Krieges nicht aus, aber erinnert ebenso an kleine Freuden, Späße und Streiche.

Ich bin unendlich dankbar, dass es dieses Buch gibt. Meine Großmutter, die gestorben ist als ich vier war, lebt für mich so durch ihre eigenen Worte weiter. Als meine andere Großmutter vor kurzem gestorben ist, wusste ich nicht, wie mit meiner Trauer umgehen. Schließlich habe ich nochmal Mach’s gut du gelesen. Es verbindet mich mit dieser Generation von Frauen, in deren Lebenszeit sich so viel verändert hat. 

„Erinnerung eines Mädchens“ von Annie Ernaux 

 

[typedjs]"Eines Tages, vielmehr eines Nachts, werden sie mitgerissen vom Begehren und Willen eines anderen, eines Einzigen. Was sie zu sein glauben, verschwindet. Sie lösen sich auf und sehen ein Abbild ihrer selbst handeln, gehorchen, erfasst vom unbekannten Lauf der Dinge. (...) Es gibt nur noch den anderen, den Herrn der Situation, der Gesten, des nächsten Moments, den er allein kennt."[/typedjs]

Autobiographisches Schreiben, auch wenn Roman auf dem Cover steht, ist absoluter Zeitgeist. Manche finden das blöd, ich finde das großartig! Die Französin Annie Ernaux gilt als Vorbild für Louis, Eribon und co und ist für mich eine der wichtigsten Schriftstellerinnen unserer Zeit. Sie selbst bezeichnet sich als Ethnologin ihrer Selbst, das heißt sie betrachtet ihr vergangenes Ich als Sujet, erkundet dieses mit Hilfe von alten Fotos, Tagebucheinträgen und Briefen. Geleitet von der Annahme: Ich kann mir selbst ein Mysterium sein.

In Erinnerung eines Mädchens schaut Ernaux zurück ins Jahr 1958. Sie arbeitet als Betreuerin in einer Ferienkolonie und verbringt ihre ersten Liebesnächte mit dem älteren Betreuer H. Als er sie ignoriert, beginnt sie mit anderen Jungen auszugehen und wird in der Folge als leichtes Mädchen verspottet. Diese erste Abweisung lässt Ernaux an ihrem Wert zweifeln, schwer verunsichert erhebt sie H. zum Gott ihrer kleinen Existenz. Sie hungert und lernt zwei Jahre lang für ihn, obwohl sie ihn nie wiedersehen wird. Ernaux bricht mit diesem Roman ein sechzig Jahre andauerndes Schweigen, sie traut sich hinzuschauen, fragt sich, wie sie sich so wertlos fühlen und in der Folge so erniedrigen konnte. Was wir lesen, tut weh, aber ist gerade deshalb so wichtig.

„Eiscafé Europa“ von Enis Maci

Ich habe Essays erst vor kurzem für mich entdeckt. Besonders reizt mich die Freiheit der Form: Persönliche Erlebnisse, Geschichten, lassen sich mit Gedanken, Fakten und Thesen verweben. Bezeichnet man Essays als Chronik unserer Zeit, ist es nicht überraschend, dass viele der spannendsten Essayisten dieser Tage Frauen sind: Jia Tolentino, Emilie Pine, Rachel Cusk, Leslie Jamison und eben aus dem deutschsprachigen Raum Enis Maci. Ihre Sammlung „Eiscafé Europa“ hat mich vollkommen überrollt, auf den ersten Seiten konnte ich nur immer wieder denken: „Fuck, ist das gut!“.

Enis Maci spricht über Frauen, die sich die Hosen anziehen, über Influencerinnen der neuen Rechten oder den Verlust ihrer 5000 Handynotizen. Sie springt gekonnt von Thesen zu Erzählungen, spielt meisterhaft mit Sprache und denkt, das vor allem, sie denkt Dinge an und durch. Ich wünschte Enis Maci wäre meine Freundin, dann könnte ich sie so reden hören, wie sie schreibt.

 
 
 
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„Wir, im Fenster“ von Lene Albrecht

Enis Maci ist zwar (noch) nicht meine Freundin, aber Lene Albrecht ist es. Ihr Debütroman Wir, im Fenster ist am 13. September beim Aufbau Verlag erschienen. Besonders froh bin über das blau glitzernde Cover, das Foto von den zwei Schwimmenden habe nämlich ich gemacht. Aber auch die Geschichte hat mich sofort in ihren Bann gezogen.

In einer präzisen, intensiven und sehr rhythmischen Sprache erzählt Lene von einer Mädchenfreundschaft im Westberlin der 90er Jahre. Linn und Laila, ihre Protagonistinnen, teilen alles: erste Küsse und frühes Begehren, Träume und irgendwann sogar Eltern. Als Laila bei Linn einzieht, verändert sich ihre Freundschaft, Geheimnisse und Eifersucht richten sich schleichend ein. Bis Linn Laila verrät und sie damit verliert:

[typedjs]„Nicht mal ein Jahr verging, und wir würden nicht mehr wir selbst sein. Laila würde ihre dämliche Mütze tragen, ich meine Scham.“[/typedjs]

Ich wollte die Mädchen vom Ponyhof runterholen“, so Lene bei ihrer Premiere. Und das ist ihr gelungen. In kaum einer Geschichte bin ich meiner eigenen Jugend in der Großstadt, den ersten Zigaretten in Hinterhöfen oder Parks, der Nähe, ja fast dem Verschmelzen mit den besten Freundinnen, so nahe gekommen. Lene erzählt vom schmerzhaften Verlust der ersten besten Freundin, ein Verlust, den, so vermute ich, viele von Euch kennen.

Danke, liebe Emilia!

6 Kommentare

  1. Søren

    Danke für die tollen Tipps (vor allem „Wir, im Fenster“ klingt toll und die Glasglocke könnte ich auch mal wieder lesen) und den neuen Buch-Instagram-Account, dem ich folgen kann.

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  2. Mila

    Ich fänd‘s super, wenn ihr bei übersetzten Titeln auch den/die Übersetzer/in nennen würdet. Unsere Arbeit wird leider immer viel zu gering geschätzt.

    Antworten
  3. Mila

    Ich fänd‘s super, wenn ihr bei übersetzten Titeln auch den/die Übersetzer/in nennen würdet. Unsere Arbeit wird leider immer viel zu wenig geschätzt.

    Antworten

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