Mental Health / Warum wir mehr Vorbilder brauchen

11.06.2020 Leben, Gesellschaft

Triggerwarnung: Einzelne Textpassagen, genannte Serien und Bücher erwähnen Suizid oder enthalten explizite Darstellungen selbstverletzender Verhaltensweisen.

Am 5. April erzählte Selena Gomez erstmals von ihrer bipolaren Störung. Es geschah innerhalb eines Instagram Live Videos mit Miley Cyrus, während ihr wohl Tausende Menschen zuhörten. Das fand ich ganz schön mutig und bewundernswert, weil so eine psychische Erkrankung ja eben noch immer schrecklich viele Stigmata mit sich bringt. Gerade Krankheitsbilder wie Persönlichkeitsstörungen, Psychosen, Schizophrenie oder bipolare Störungen sind von einem schlechten Ruf umgeben, immerhin stehen sie oftmals in Verbindung zu negativen Berichterstattungen über Gewalttäter*innen oder fragwürdigen Darstellungen innerhalb der Unterhaltungsmedien. 

Ja, möchte man all den bekannten Klischees und Vorurteilen glauben, eignen sich psychische Krankheiten sogar ganz hervorragend, um Gruselgeschichten, Thriller und Krimis zu erzählen oder um den Ursprung aller zwischenmenschlichen Probleme in Filmdramen zu ergründen — das habe ich in all den Jahren der Fernsehgeschichte schon längst begriffen, obwohl ich doch immer wieder erstaunt war, wie wenig die Erzählungen variierten, ja sogar oftmals so klangen, als seien sie bloß stupide abgeschrieben worden. Da gibt es etwa die manipulierende Borderlinerin, die jeden Tag mit einem anderen Fremden knutscht, den an Schizophrenie erkrankten Mann, der plötzlich zum Mörder wird, weil er den Mordauftrag von einer halluzinierten Stimme erhält oder die junge Frau, die depressiv am See steht und Suizidgedanken hegt. Die ständig reproduzierten Bilder stereotypischer Personen, die gleichermaßen in Hollywood-Streifen als auch im heimischen Tatort vorkommen, sind natürlich ein schrecklich effizienter Vorgang, immerhin spart er Zeit, die man doch eigentlich bräuchte, um sich genauer mit solch komplexen Krankheitsbildern auseinanderzusetzen. Noch dazu klingen jene Erzählungen oftmals wesentlich spektakulärer, verstörender oder — in einigen Fällen absurderweise — sogar glamouröser, als die Realität.

Keine Frage, eine solch einseitige, in Teilen verzerrte, Erzählweise ist bereits fragwürdig, noch problematischer wird sie jedoch vor allem durch die zusätzliche Tabuisierung psychischer Erkrankungen, heißt: Sind wir in den Medien größtenteils stigmatisierten Krankheitsbildern ausgesetzt und erfahren im gleichen Zuge nichts oder nur sehr wenig über die verschiedenen, tatsächlichen Verläufe und Symptomatik jener Krankheiten wie etwa Schizophrenie, Borderline, Essstörungen oder bipolare Störungen, entwickeln wir verallgemeinerte, gar falsche Vorstellungen, die sich in unseren Köpfen festigen und von dort nicht immer so einfach wieder verschwinden. Wirklich schädlich ist jene Mischung aus Unwissenheit und Fehlinformation letztlich aber natürlich nicht für die, die sich einer gesunden Psyche erfreuen, sondern für all jene Menschen, die unter psychischen Problemen und Erkrankungen leiden, denn: Wie vertraut man sich anderen Menschen an, sucht sich Hilfe, wenn man in den Medien stets als wahnsinnige, manipulative, gar mordende Person porträtiert wird?

 
 
 
 
 
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Positivbeispiele sind in den Medien also schon längst überfällig. Wir brauchen Filme und Serien, wie etwa Netflixs „Spinning Out“, die psychischen Erkrankungen Raum schaffen, ohne sie direkt zum Zentrum der Handlung zu machen, es braucht Bücher wie Sally Rooneys „Conversations with Friends“, die von Menschen mit Leidenschaften, Jobs und einer Zukunft erzählen, obwohl sie unter Erkrankungen leiden (bitte die Triggerwarnungen nicht vergessen!), wir brauchen Personen wie Selena Gomez, Lisa Nicole Carson und Demi Lovato, die sich öffnen, gleichzeitig jedoch auch zu verstehen geben, dass so eine psychische Erkrankung nie die Person definiert, sondern, wie so vieles andere auch, bloß ein Teil ist. Wir brauchen Vorbilder, um psychische Erkrankungen endlich zu enttabuisieren, um Menschen zu informieren und ihnen aufzuzeigen, dass es nie bloß den einen Krankheitsverlauf, die eine Symptomatik gibt. Dass eine Person, die unter einer psychischen Erkrankung leidet, sehr wohl ein soziales Umfeld hat, lacht, ehrlich ist, ihren Job mindestens genauso gut macht, wie andere und liebenswürdig ist. Vor allem aber brauchen wir Vorbilder, um erkrankten Menschen die Scham und Angst vor Verurteilung zu nehmen und ihnen damit zumindest eine Last abzunehmen.

4 Kommentare

  1. Leo

    Hey Julia :), nur ein kleiner Hinweis: „Gerade Persönlichkeitsstörungen sind von einem schlechten Ruf umgeben…“ stimmt auf jeden Fall – aber die bipolare Störung ist keine Persönlichkeitsstörung (das wirkt im Zusammenhang mit der Aussage über Selena Gomez ein bisschen so!)

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    1. Julia Carevic Artikelautorin

      Hey liebe Leo, danke dir für den wichtigen Hinweis, du hast natürlich völlig recht! Ich bearbeite den entsprechenden Teil des Artikels noch einmal 🙂

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  2. Josephine

    Danke fuer den wichtigen und empathisch formulierten Beitrag. Ich schreibe gerade einen Roman und erhoffe mir mit meinem Buch dazu beitragen zu koennen, das Thema zu enttabuisieren, zu entstigmatisieren und auch auf die Konflikte und Maengel im sozialen und Gesundheitssystem aufmerksam zu machen. Alles Liebe Josephine

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