Es gab mal eine Zeit, in der ich mir noch mächtig viel Zeit nahm, die Zeit zu lesen, wir waren quasi Freunde auf informativer Ebene. Nun kommt es aber zuweilen doch hin und wieder vor, dass sich Freundschaften irgendwann erübrigen, jedenfalls dann, wenn die Beteiligten sich voneinander weg entwickeln. Einer von beiden zappelt dann meist noch ein bisschen, hoffnungsvoll, und das bin in diesem Fall wohl ich. Weshalb ich trotz diverser Titel aus der Tonne, die Leitgeschichte von Jens Jessen war ja noch nicht einmal das Schlimmste, nicht müde wurde offen zu bleiben für positive Überraschungen. Bis zum vergangenen Donnerstag, an dem die Wochenzeitung mit dem reißerischen Titel „Die Illusion von der glücklichen Patchwork Familie“ aufwartete. Noch bevor ich überhaupt einen einzigen Satz des dazugehörigen Artikels von Katrin Hörnlein, die im Folgenden tatsächlich ihre wortgewandten Hörner auspacken sollte, las, fühlte ich mich stellvertretend für alle längst praktizierenden Patchwork Familien auf den Schlips getreten.
Zwar sind persönliche Befindlichkeiten kein guter Ausgangspunkt für konstruktive Kritik, aber ich bin mir sicher, dass die leichtsinnige oder gar fahrlässige Buchstabenwahl auch ganz objektiv betrachtet ein großes Schlamassel darstellt. Sogar für alle Familien dieser Erde, die, liebe Zeit, übrigens mehr Liebe kennt als nur jene zwischen Mann und Frau. Denn ganz abgesehen von der hier gewählten wunderbar wonnigen, aber vor allem heteronormativen Darstellung einer Vorzeigefamilie, die durch eine bemerkenswert homogene Bildauswahl unterstrichen wird, muss doch eigentlich jedem Lesenden und auch Schreibenden klar sein, dass diese angebliche „Illusion“ schon allein auf sprachlicher Ebene kaum Raum für eine optimistische Haltung gegenüber dieser zutiefst persönlichen Lebensweise zulässt. Die Glaubwürdigkeit von sowas wie Glück im Kontext dieses „neuen“ Konstrukts wird damit bereits im Keim erstickt. Als gäbe es sie nicht, die gesunde Familie aus zusammengewürfelten Menschen, die zueinander halten. Als sei die Blutsfamilie das einzig Wahre. Wer die klassische Familie lebt, bekommt beim Lesen des Artikels Mitleid. Der könnte sogar schockiert reagieren und mit allerhand Vorurteilen raus gehen aus der Nummer. Wer selbst im Patchwork-Modell lebt, schüttelt entweder mit dem Kopf oder findet sich darin wieder. Bloß bleibt der Hoffnungsfunke aus, das Mutmachende, die andere, die gute Seite der Medaille, die zwar immer irgendwie schwer wiegt, aber manchmal auch Gold wert sein kann. Und das ist schon wieder ein Problem, denn: Was will dieser Artikel eigentlich? Das bleibt offen, auch nach dem allerletzten Punkt.
Der gesamte Text liest sich wie eine Vox-Dokumentation mitten aus dem Brennpunkt. Er erzählt von Schmerz und Grausamkeiten. Nicht aber von Chancen. Er übersieht, dass es sich bei keiner Familie dieser Erde um ein Abziehbild handelt, dass es keine Stereotypen und Gebrauchsanweisungen geben kann, sofern verschiedene Persönlichkeiten aufeinander treffen. Dass es hier um echte und gefühlige und liebende und fehlbare Menschen handelt, um Individuen, von denen nunmal maßgeblich abhängt, wie eine solche Gemeinschaft sich gestalten lässt. Er tut so, als sei Patchwork nichts weiter als ein krasser Lifestyle, der leichtfüßig und naiv herbei gesehnt würde, weil so schrecklich modern – um am Ende dennoch nichts als Unheil anzurichten. Als gebe es in klassischen Familien keine Probleme. Er klammert aus, dass Patchwok kein Trend ist. Sondern ein Versuch, eine Möglichkeit, wieder auf die Beine zu kommen. Und ein potenzielles Privileg in einer Gesellschaft, die noch immer dabei ist, sich aus patriarchalen Strukturen zu befreien.
„Wenn Stars von der ganz anderen menschlichen Vielfalt, von Lässigkeit und Freiräumen, von großer Geborgenheit schwärmen, wer möchte da noch teil einer klassischen Vater-Mutter-Kind-Familie sein?“ – Fast könnte man meinen, die Autorin wünsche sich wieder mehr Werte und Traditionen, mehr Festhalten an regelkonformen Lebensweisen herbei, auf Kosten des eigenen Herzens. Denn die armen Kinder. Das haben sie doch nicht verdient. Getrennte Eltern meine ich, und neue Bonuseltern oder -Geschwister. Zusammenbleiben für die Kinder? Trotz Streit und Kampf? Es scheint, als seien unglückliche Eltern, die komme was wolle zusammen bleiben, immer doch das kleinere Übel. Und natürlich: Patchwork – das klingt so cool, das kann man einfach mal machen. Mit jeder Zeile frage ich mich ein bisschen mehr, was für Leute Katrin Hörnlein im Laufe ihres Lebens eigentlich um sich versammelt hat. Nur tragische Existenzen? Oder doch nur Vater-Mutter-Kind? Glückliche Väter, Mütter und Kinder, versteht sich. Sonst wäre Patchwork, so ganz grundsätzlich, ihr ja nicht so ein Dorn im Auge. Ihre Welt jedenfalls scheint schwarzweiß zu sein, dazwischen bleibt nicht viel Platz für Vielfalt, für Geschichten, die das wilde Leben schreibt und die natürlich grausam ausfallen können, aber eben auch heilsam und wunderschön. Stattdessen ergötzt sie sich an einem Tonus, den man für gewöhnlich nur aus Berichten über große Verbrechen kennt: „Eltern und Kinder zu finden, die ehrlich und unter dem eigenen Namen über das reden, was im großen Beziehungsgeflecht Patchwork tatsächlich passiert, ist fast so kompliziert wie der Alltag der Familien selbst.“
Hätte sie mich mal besser gefragt. Ich kenne sie nämlich, die, die einen wirklich denken lassen: Klingt ziemlich großartig. Ich behaupte, selbst aus einer Patchwork Familie stammend, ja gar nicht, dass es einfach ist und ich möchte auch all die Herausforderungen nicht leugnen, die sich einem vor die Füße werfen, wenn viele neue Menschen unter einem Dach leben und zur Familie werden wollen. Aber ich möchte nicht, dass uns der Mut verlässt. Dass sich irgendjemand für diesen Versuch schämen oder sich gar Vorwürfe machen muss, nur wegen eines unerschütterlichen Glaubens an die Liebe und der Hoffnung darauf, dass irgendwann alles gut werden kann. Das kann es nämlich. Schief gehen aber auch. Wie eben alles, was sich „Beziehung“ nennt.