Editor’s Letter // Weniger Pefektion, mehr Kapitulation, bitte.

Ihr Lieben. „Chaos sei das, was wir am meisten fürchten, heißt es oft, aber ich glaube heute, insgeheim ist das Chaos unsere größte Sehnsucht.“, schreibt Deborah Levy gleich zu Beginn ihres sehr persönlichen Werkes „Was das Leben kostet“. Ja, ja, ja, dachte ich beim ersten Lesen. Aber ist das wirklich so? 

Eigentlich hoffte ich nämlich, jetzt, nach fünf Wochen Sommerferien für die Kinder, würde alles wieder in geregelten Bahnen verlaufen, weshalb ich in naivem Optimismus ersaufend zum Beispiel von einem Gehirn träumte, das endlich wieder über Super-Lok-Quartetts hinaus wachsen darf, ich sah mich regelmäßig Frühsport treiben statt Pfannkuchen backen und in aller Ruhe eMails beantworten, für euch Artikel tippen, Ideen spinnen und all die wunderbaren Dinge erledigen, die man an einem ganz stink normalen Arbeitstag zu schaffen in der Lage ist – sofern denn tatsächlich kein Chaos herrscht, sondern einfach nur: Ruhe. Im Sinne von: Routine. Die ich in den vergangenen Tagen zu vermissen gelernt habe, obwohl sie mir jahrelang doch mitunter der größte Dorn im Auge meiner Angst vor dem Erwachsenwerden war. Vielleicht ist es sogar so, dass ich mich zum allerersten Mal in meinem Leben nicht nach Chaos sehne. Denn Chaos würde Veränderung bedeuten und nach einem Unwetter verlangen, das alles über den Haufen wirft. Damit ich am Ende wieder selbst bei mir ankäme, mich finden könnte, wie in der Vergangenheit schon sooft. Das wäre dann wohl das schöne Chaos, von dem Levy spricht, jenes, das unheimlich schmerzt, aber auch schrecklich nötig ist. Kennt ihr das? Jetzt aber ist es anders: Das Chaos, das ich ohnehin selbst bin, ist schließlich und endlich genug. Kein weiteres vonnöten. Weil sich alles so gut anfühlt. Nach einer Art Insel, für die ich viele, viele Jahre lang durch einen Ozean aus Scheiße segeln musste. Nun ist da plötzlich: Honig. Und meine Güte, was klebe ich hier gern fest. 

Auch, weil dieser Honig mir mit viel Geduld beigebracht hat, ganz ruhig zu bleiben. Und loszulassen, wann immer sich sowieso überhaupt rein gar nichts ändern lässt. Wie zum Beispiel vorgestern: Da stand ich erst mächtig auf dem Schlauch und dann sehr ungewohnt gelassen da und lächelte, am allerersten Morgen in Lios neuem Kindergarten, zwischen Vorschulkindern und Gummistiefelgeruch, als mir eine herzensgute Erzieherin gerade in aller Seelenruhe erkläre, dass die Eingewöhnungsphase keineswegs zwei bis drei Tage dauern würde, sondern selbstredend ganze zwei bis drei Wochen. Ich lächelte, während ich daraufhin sieben Meetings für die kommenden doch-nicht-vogelfreien Tage absagte und damit auch ein paar Kröten verlor. Ich lächelte, als uns an der Tür versprochen wurde, morgen dürfe Lio schon viel länger bleiben: Bis halb elf nämlich. Hurra. Ich lächelte, noch immer. Obwohl ich auch hätte heulen können. Bloß entschied sich mein neues, gelasseneres Ich einfach dagegen.

Vor allem, weil mich solche Schlamassel inzwischen jedes Mal ein bisschen an die Sache mit den Staus erinnern, die ich wirklich verkackt habe, ein halbes Leben lang. Jahrelang stand ich da mitten drin, wohlwissend, dass ohnehin kein Entkommen ist, mal fluchend und noch häufiger weinend, aus Wut oder weil ich wirklich große Angst hatte, irgendetwas Wichtiges zu verpassen. Heute drehe ich die Musik einfach lauter und lasse los – jeden unnötigen Ärger und alles, was durch sinnlos verschwendete Energien sowieso weder besser noch schlechter enden würde.

Das ist sie also, die befreiendste Erkenntnis des Sommers 2019: Was mir so lange fehlte, war weder Perfektion noch Organisation – sondern mehr Mut zur Kapitulation.

Und wenn Du denkst,
„Alles ist zum Speien!“
Und so wie Du jetzt bist
willst Du überhaupt nicht sein.
Wenn Du Dir sicher bist,
niemand kann Dich je verstehen:

Kapitulation.

– TOCOTRONIC – 

Auf einen chaotischen August mit euch und uns. 
Es wird vielleicht verrückt, aber ganz bestimmt schön, sauschlau und interessant:
Julia und Sarah sammeln gerade Geschichten auf der Copenhagen Fashion Week für euch.
Fabienne hat mit alleinerziehenden Müttern über die größten Hürden des Alltags gesprochen und Fräulein Korbik ist gerade dabei, den Status Quo in Sachen „My Body, My Choice“ zusammenzuschreiben.

Es ist schön, dass es euch gibt.
Immer. Danke!

 

3 Kommentare

  1. Nicky

    Liebe Nike –
    Diesem Blog fehlte in letzter etwas Entscheidendes: deine Schreibe. Und dann die Kolumne. Made my evening! <3

    Antworten

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