Kolumne // „Wie schaffst du das alles?“ – Na, gar nicht.

11.11.2019 Wir, Leben, box1, Kolumne

Es gibt eine Frage, die mich seit Jahren begleitet: „Wie kriegst du das eigentlich alles unter einen Hut?“. Mit „alles“ meinen die Fragenden vermutlich Kind, Karriere, Körperpflege und solche Sachen. Ich sitze dann jedes Mal da, oft ungeduscht oder in der selben Kleidung wie am Vortag (weil ich gelegentlich in voller Montur einschlafe, am nächsten Morgen aber nicht „scheiße“, sondern nur „ach, wie praktisch“ denke) und antworte verblüfft: „Gar nicht.“ Natürlich nicht. Dieses Märchen des immer funktionierenden und niemals müden Übermenschen, der alles mit Links schafft, als sei das Leben ein einziger freudiger Klacks, der alles erledigt und erreicht, und das auch noch gleichzeitig, ist nämlich in Wahrheit genau das: Ein Fabelwesen, das mir in der Wirklichkeit noch nie untergekommen ist. Oder auch: Eine Lüge. Ein wunderschönes, utopisches Narrativ. Ich finde, das solltet ihr wissen. Das sollten wir sogar alle einsehen und so richtig kapieren, statt uns immerzu ob all der vermeintlichen Vorbilder zu Nichtsnutzen zu degradieren, die augenscheinlich viel weniger geschissen kriegen als der gesamte Rest der Welt.

Es gibt ganz sicher Leute, die schaffen mehr als andere. Das ist sehr natürlich. Kapazitäten werden nunmal nicht gerecht verteilt. Vor allem aber gibt es tonnenweise Frauen, die massiv viel belastungsfähiger sind als ein großer Teil der übrigen Menschheit, gerade jetzt, wo von ihnen verlangt wird, tagein tagaus gefühlt fünfunddreißig Mal die Rolle zu wechseln. Wir hatten das schon an anderer Stelle: Ehefrau, Mutter, Arbeitstier, Ernährerin, Haushälterin, Geliebte, beste Freundin, Köchin, Intellektuelle, Alleinunterhalterin, und so weiter und so fort – all das sollten wir im Bestfall wohl sein. Einige von uns schaffen das. Die Privilegiertesten, wohlbemerkt. Weil sie etwa auf sehr viel Unterstützung zurückgreifen können. Und auch ich dachte lange: Can do! Stimmte ja auch, irgendwie. Aber nur, weil ich schweineviel Glück gehabt habe. Mit meiner Berufswahl, meiner Selbstständigkeit, dem Vater meines Kindes, meinen Kolleg*innen. Prioritäten setzen musste ich dennoch zu jedem Zeitpunkt. Jedem Tag geht bis heute  außerdem stets eine Entscheidung voran: Eisenbahnspielen oder Geldverdienen, zum Beispiel. Freunde oder nur den Bildschirm sehen. Arzttermin oder Meeting – die Liste ist endlos lang. Am Ende des Tages schaffe ich zumindest das, was ich mir mit meinem neuen Realismus im Nacken vorgenommen habe – aber ich schaffe die Dinge niemals hundertprozentig, nie zu meiner vollsten Zufriedenheit, das kann ich mir abschminken. Und auch nie ohne Kompromisse einzugehen. Irgendwas kommt immer zu kurz. Mal temporär, mal nur vorübergehend. Vor allem aber schaffe ich viel weniger als je zuvor. Weil ich zum Beispiel aufgehört habe, mich selbst an der Nase herum zu führen. 

Ich weiß jetzt, dass ich nach Lios Geburt, als ich nach zwei Wochen wieder anfing zu arbeiten, nicht von ganz allein 15 Kilo abgenommen habe – sondern, weil ich weder morgens noch mittags Zeit fand, zu essen. Ich weiß jetzt, dass eine Partnerschaft darunter leidet, wenn mindestens einer von beiden sogar beim Streiten heimlich eMails checkt. Ich weiß jetzt, dass Feierabende und Urlaube durchaus Sinn ergeben und dass der Körper diesen atemlosen Wahnsinn nur eine gewisse Zeit  lang mitmachen kann. In meinem Fall waren das etwa acht Jahre. Dann war Schluss. Auch mit meinem Hirn.

Anfang des Jahres musste ich mir schließlich eine zweimonatige Auszeit nehmen, um in der Reha auf Schwimmnudeln zu reiten und klarzukommen. Weil ich unter anderem durch den Einfluss eines Cortisolspiegels aus der Hölle (ihr wisst schon, das Stresshormon) noch nicht einmal mehr bemerkt hatte, dass mir ein tischtennisgroßer Knoten an der Wirbelsäule gewachsen war. Stattdessen ließ ich mich eineinhalb Jahre lang taub spritzen. Physio? MRT? Sport? Keine Zeit, keine Zeit, lasst mich in Ruhe. Bis ich eines Tages mit einem gelähmten Bein aufwachte, das erst nach einer Operation und Wochen der Isolation von allem, was mit Arbeit zu tun hatte, wieder zu sich kam. Heute geht es mir nicht nur wieder gut, sondern besser. Weil ich gelernt habe, sanfter zu mir selbst zu sein, weniger nach rechts und links zu schauen und Dinge los-, bzw. gehen zu lassen. Ich weiß jetzt endlich, wo meine Grenzen sind – und verfalle trotzdem immer wieder in alte Muster. Ich scheitere. So unendlich oft. Wenn ich keine Energie mehr habe, mit meinem Sohn eine Falle quer durchs ganze Zimmer zu bauen und stattdessen vorschlage, noch eine Runde Quartett zu spielen, liegend. Wenn ich meinen Mitarbeiterinnen in einem viel zu scharfen Ton antworte, nur, weil ich selbst längst nicht mehr im Zeitplan bin. Wenn ich mich wieder tot stelle und tagelang jede Whats App Nachricht unbeantwortet lasse oder merke, dass ich seit vier Wochen nicht danach gefragt habe, wie es meiner Mutter eigentlich geht. Aber anders als zuvor bemerke ich nun, wann die Dinge aus dem Gleichgewicht geraten. Ich kann dann rechtzeitig gegensteuern. Oder eben in letzter Sekunde. Durchatmen. Mich befreien. Und schließlich ganz freiwillig versagen. Weil’s am Ende gar nicht so schlimm ist. Wirklich nicht. 

Ich weiß schon: Keiner braucht Selbstmitleid und erst recht keine Demotivationsrede. Aber das hier soll genau das Gegenteil sein. Es soll euch sagen: Hört endlich auf, Angst zu haben. Davor, nicht auszureichen, weil ihr vermeintlich viel weniger schaffen, aushalten oder leisten könnt, als all die anderen, die ihr nur aus Geschichten kennt. Lasst es einfach sein. Seid ihr. Mehr geht sowieso nicht, mehr ist nicht gesund. Wenn wir uns selbst von der Last frei sagen, zehn Personen in einer sein zu müssen, mit sechs Armen, drei Hirnen und siebzehn Beinen. Wenn wir aufhören, zu denken, wir müssten perfekt sein, um Erfolg zu haben. Wenn wir den Gedanken aufgeben, dass jede von uns in jedem Lebensbereich gleich erfolgreich sein muss. Wenn wir aufhören, anzunehmen, wir müssten zwingend Karriere machen, um einen Wert zu haben. Oder Mütter sein. Dann kann es klappen. Dann verschwinden die Zweifel, die sowieso niemanden etwas nützen. Wir müssen nämlich gar nichts. Aber wir dürfen mit größter Freude und aus tiefster Überzeugung verschieden sein. Wir dürfen nach Hilfe fragen. Wir dürfen viel wollen, oder eben gar nichts. Aber wir müssen uns gegenseitig stützen, immer. Und endlich anfangen, ehrlich zu sein. 

Die Wahrheit ist nämlich: Niemand von uns kann „alles“ haben. Nicht alles auf einmal. Noch nicht. Aber wir sind trotzdem: genug.

Ich könnte schon wieder stundenlang weiterschreiben, alles Korrektur lesen, Schlaueres sagen. Aber wisst ihr was? Gar nichts davon mache ich. Ich lasse es einfach gut sein. Weil ich nunmal los muss. Zu meinem Sohn, der mit seiner Laterne auf Mama wartet, die heute Mütze trägt, weil keine Zeit zum Haarewaschen blieb. Ich weiß ehrlich gesagt noch nicht einmal, seit wie vielen Tagen ich jetzt schon den selben BH trage – geschweige denn, was es heute Abend zu essen gibt. Der Kühlschrank jedenfalls ist leer gefegt und ich wüsste wirklich nicht, wie es schaffen sollte, daran noch etwas zu ändern. Also ändere ich, logisch, wohl lieber meine Einstellung.

Scheißt drauf. Den meisten von uns geht’s ganz genau so. 

Lese-Tipp zum Thema, ein Klassiker sozusagen:
Why Women Still Can’t Have It All.

14 Kommentare

  1. Nora

    oh Nike! So beruehrend ehrliche Worte. Wie immer ein riesiges Danke. Auf sich hoeren und sich selbst gegenueber so guetig sein wie man es zu einer Freundin waere ist ein langer Lernprozess. Schoen, dass es dir besser geht!

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  2. Kostantina Kaptebileva

    Liebe Nike,
    ich muss einen Leserbrief veröffentlichen, welchen ich vor kurzem der „Emotion“ Redaktion geschickt habe! Denn ich habe genug von Power Frauen und habe immer eher das Gefühl, dass uns Frauen genau der Gegenteil vermittelt wird: wir können Alles haben! Und zwar auf einmal! Also vielen lieben Dank für die Ehrlichkeit, nach welche ich mich schon seit sehr langem sehne!
    LG
    Kostantina K.
    http://kostantinak.de/

    „Soziale Netzwerke wie Instagram, zeitgenössische Phänomene wie Influencer, gegenwärtige feministische Bewegungen und noch vieles mehr haben zu einem verzehrten, hoch ideologisierten Bild der heutigen Frau gesteuert.
    Frauen können heutzutage alles sein. Und zwar alles AUF EINMAL! Man muss auf nichts verzichten. Egal, ob Girl Boss oder Power Mom, es ist alles machbar. Und das größte Dilemma ist, dass dieser unbewusste Druck, der dadurch entsteht, von Frauen selbst ausgelöst wird!
    Das Frauenbild der 50er -die perfekte Hausfrau und Mutter, immer Top gestylt, mit einem Lächeln im Gesicht- wird heutzutage um eine Rolle mehr ergänzt: die der Karrierefrau! Im besten Fall in selbständiger Tätigkeit, oder in führender Position. Ja, wir können heutzutage ALLES haben. Aber an dieser Stelle möchte ich Inet, die „Vogue“ Chefin von Carrie Bradshaw, zitieren und stelle die Frage: „Wo bleibt bitte die ganze Ehrlichkeit?“
    „Carrie: Aber das ist doch toll. Sie haben einen wahnsinnig erfolgreichen Beruf und eine Beziehung! Ich habe befürchtet wir Frauen, wir kriegen immer nur das eine oder das andere, aber Sie haben alles!
    Inet: Also schön. Um es frauenmagazine gerecht zu formulieren, ja ich habe alles. Auf der East Side, er hat jemand anders auf der West Side…. Ich habe keine Zeit für einen Vollzeit Mann, ich habe einen Vollzeit Beruf! Das ist der Schlüssel, wenn sie alles wollen. Sie müssen aufhören zu erwarten, dass es so aussieht wie sie es sich vorgestellt hatten. Das trifft auf die Herbstkollektionen zu und auf Beziehungen gleicherweise.“
    Natürlich ist man vieles zugleich: Tochter, Freundin, Ehefrau und Mutter. Aber seien wir ehrlich, man kann nicht gleichzeitig auf zwei Hochzeiten tanzen. Der Tag hat nun mal nur 24 Stunden und man selbst nur zwei Hände. Also wieso den ganzen Druck? Und wem muss man was beweisen? Der Männer Welt?
    Wenn ich durch Instagram durchscrolle, werde ich eher deprimiert als motiviert. In den meisten Profilbeschreibungen sind immer mehrere Tätigkeiten aufgelistet. Und das obligatorische „Co-Founder“ darf natürlich nicht fehlen. Den ein Start-Up Unternehmen zu gründen ist der neueste Hype heutzutage. So oder so, manchmal denke ich mir, wenn Instagram pleite oder offline gehen würde, wären die meisten Frauen zwischen Mitte 20 und Mitte 30 arbeitslos. Allerdings ist das ein anderes Thema. Die wesentliche Frage ist, wann schaffen diese Frauen das alles? Haben deren Tage mehr als 24 Stunden und gehen die nie schlafen?!
    Wonder Woman existiert nur auf Papier! Und selbst sie kommt an ihre Grenzen und ist manchmal auf Hilfe angewiesen. Also bitte ich um etwas mehr Verständlichkeit, schalten wir einen Gang runter und geben zu, dass wir auch nur Menschen sind und keine perfekten Wesen vom Planeten Venus. Hiermit plädiere ich für etwas mehr Ehrlichkeit und ein echtes Frauenbild!
    Ich schließe mich der Meinung der Regisseurin Anika Decker (S.36/ Emotion November 2019) und wünsche mir mehr schwache Frauen, anstatt „Power Frauen“. Zeigen wir die Wahrheit auch wenn die nicht immer schön und angenehm ist. Die Wahrheit, dass man nicht immer top gestylt aussieht wie aus einem Mode Blog. Dass die Karriere erstmal auf die Strecke bleibt, wenn man 24/5 sich allein um das Kind kümmern muss, wie in meinem Fall. Dass das Highlight des Tages manchmal darin besteht einen Großeinkauf bei Real zu machen. Dass die Wohnung nicht immer aufgeräumt oder sauber ist… Und letztendlich ist das alles nicht mal ein Anzeichen von einer Schwäche. Das ist das wahre Leben und man muss nicht immer mehrere Rollen gleichzeitig spielen. Mann sollte auch kurz ausatmen können. „

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  3. Johanna

    Vielen Dank für diesen ehrlichen, ermutigenden Text, Nike!

    Ich denke so oft, dass ich in meinem zarten Alter doch noch gar nicht so erschöpft sein „kann“ – aber wie du eben sagtest: Jede Person hat andere Kapazitäten und das ist völlig in Ordnung so, unabhängig von Alter, Beruf, etc.

    Danke für den Reminder!

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  4. Juliaaaa

    Ich ertappe mich häufig selbst wie ich mich nach einem langsamen, gleichförmigen sogar eintönigen Leben sehne. In dem ich nicht in Berlin mein Biz schaukel, sondern in einem verschlafenen Örtchen im Supermarkt an Kasse 30h arbeite. Jeden Sonntag Kegeln gehe und sonst ab 18 Uhr zu Hause auf dem Sofa sitze und Romane lese. Was mich davon abhält ist mein eingeimpfter Minderwertigkeitskomplex der mich abhängig von einem Job mit Ansehen, Prestige und Privilegien macht und ohne diesen ich schlichtweg zu Grunde gehen würde. Denn ohne all das ist recht wenig Substanz übrig. Wie bei so vielen.

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  5. Isabell

    Liebe Nike, danke für die tollen und ehrlichen Worte.
    Ich bin auch selbstständig und kenne diese Momente nur zu gut- immer wieder kurz vor dem Kollaps zu stehen.
    Mental aber auch körperlich. Da fragt man sich warum man das eigentlich tut. Weil eigentlich hat man ein großes Privileg selbstbestimmt und vermeintlich frei zu sein. Ich lerne auch immer mehr wie sinnvoll Freizeit, Sport, Urlaub oder einfach mal denken – Ihr könnt mich mal- ist.
    Danke für diesen tollen Beitrag.
    Du sprichst mir aus der Seele.

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  6. Ulrike

    Cool 🙂 Mich hat es mein ganzes Leben gebraucht um das zu kapieren, und danach zu leben. Mamma mia, tut diese Einsicht gut. Werde sie aber bestimmt noch häufig wiederfinden müssen, mich behaupten müssen etc. Danke für den tollen Text

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