Es gibt eine Frage, die mich seit Jahren begleitet: „Wie kriegst du das eigentlich alles unter einen Hut?“. Mit „alles“ meinen die Fragenden vermutlich Kind, Karriere, Körperpflege und solche Sachen. Ich sitze dann jedes Mal da, oft ungeduscht oder in der selben Kleidung wie am Vortag (weil ich gelegentlich in voller Montur einschlafe, am nächsten Morgen aber nicht „scheiße“, sondern nur „ach, wie praktisch“ denke) und antworte verblüfft: „Gar nicht.“ Natürlich nicht. Dieses Märchen des immer funktionierenden und niemals müden Übermenschen, der alles mit Links schafft, als sei das Leben ein einziger freudiger Klacks, der alles erledigt und erreicht, und das auch noch gleichzeitig, ist nämlich in Wahrheit genau das: Ein Fabelwesen, das mir in der Wirklichkeit noch nie untergekommen ist. Oder auch: Eine Lüge. Ein wunderschönes, utopisches Narrativ. Ich finde, das solltet ihr wissen. Das sollten wir sogar alle einsehen und so richtig kapieren, statt uns immerzu ob all der vermeintlichen Vorbilder zu Nichtsnutzen zu degradieren, die augenscheinlich viel weniger geschissen kriegen als der gesamte Rest der Welt.
Es gibt ganz sicher Leute, die schaffen mehr als andere. Das ist sehr natürlich. Kapazitäten werden nunmal nicht gerecht verteilt. Vor allem aber gibt es tonnenweise Frauen, die massiv viel belastungsfähiger sind als ein großer Teil der übrigen Menschheit, gerade jetzt, wo von ihnen verlangt wird, tagein tagaus gefühlt fünfunddreißig Mal die Rolle zu wechseln. Wir hatten das schon an anderer Stelle: Ehefrau, Mutter, Arbeitstier, Ernährerin, Haushälterin, Geliebte, beste Freundin, Köchin, Intellektuelle, Alleinunterhalterin, und so weiter und so fort – all das sollten wir im Bestfall wohl sein. Einige von uns schaffen das. Die Privilegiertesten, wohlbemerkt. Weil sie etwa auf sehr viel Unterstützung zurückgreifen können. Und auch ich dachte lange: Can do! Stimmte ja auch, irgendwie. Aber nur, weil ich schweineviel Glück gehabt habe. Mit meiner Berufswahl, meiner Selbstständigkeit, dem Vater meines Kindes, meinen Kolleg*innen. Prioritäten setzen musste ich dennoch zu jedem Zeitpunkt. Jedem Tag geht bis heute außerdem stets eine Entscheidung voran: Eisenbahnspielen oder Geldverdienen, zum Beispiel. Freunde oder nur den Bildschirm sehen. Arzttermin oder Meeting – die Liste ist endlos lang. Am Ende des Tages schaffe ich zumindest das, was ich mir mit meinem neuen Realismus im Nacken vorgenommen habe – aber ich schaffe die Dinge niemals hundertprozentig, nie zu meiner vollsten Zufriedenheit, das kann ich mir abschminken. Und auch nie ohne Kompromisse einzugehen. Irgendwas kommt immer zu kurz. Mal temporär, mal nur vorübergehend. Vor allem aber schaffe ich viel weniger als je zuvor. Weil ich zum Beispiel aufgehört habe, mich selbst an der Nase herum zu führen.
Ich weiß jetzt, dass ich nach Lios Geburt, als ich nach zwei Wochen wieder anfing zu arbeiten, nicht von ganz allein 15 Kilo abgenommen habe – sondern, weil ich weder morgens noch mittags Zeit fand, zu essen. Ich weiß jetzt, dass eine Partnerschaft darunter leidet, wenn mindestens einer von beiden sogar beim Streiten heimlich eMails checkt. Ich weiß jetzt, dass Feierabende und Urlaube durchaus Sinn ergeben und dass der Körper diesen atemlosen Wahnsinn nur eine gewisse Zeit lang mitmachen kann. In meinem Fall waren das etwa acht Jahre. Dann war Schluss. Auch mit meinem Hirn.
Anfang des Jahres musste ich mir schließlich eine zweimonatige Auszeit nehmen, um in der Reha auf Schwimmnudeln zu reiten und klarzukommen. Weil ich unter anderem durch den Einfluss eines Cortisolspiegels aus der Hölle (ihr wisst schon, das Stresshormon) noch nicht einmal mehr bemerkt hatte, dass mir ein tischtennisgroßer Knoten an der Wirbelsäule gewachsen war. Stattdessen ließ ich mich eineinhalb Jahre lang taub spritzen. Physio? MRT? Sport? Keine Zeit, keine Zeit, lasst mich in Ruhe. Bis ich eines Tages mit einem gelähmten Bein aufwachte, das erst nach einer Operation und Wochen der Isolation von allem, was mit Arbeit zu tun hatte, wieder zu sich kam. Heute geht es mir nicht nur wieder gut, sondern besser. Weil ich gelernt habe, sanfter zu mir selbst zu sein, weniger nach rechts und links zu schauen und Dinge los-, bzw. gehen zu lassen. Ich weiß jetzt endlich, wo meine Grenzen sind – und verfalle trotzdem immer wieder in alte Muster. Ich scheitere. So unendlich oft. Wenn ich keine Energie mehr habe, mit meinem Sohn eine Falle quer durchs ganze Zimmer zu bauen und stattdessen vorschlage, noch eine Runde Quartett zu spielen, liegend. Wenn ich meinen Mitarbeiterinnen in einem viel zu scharfen Ton antworte, nur, weil ich selbst längst nicht mehr im Zeitplan bin. Wenn ich mich wieder tot stelle und tagelang jede Whats App Nachricht unbeantwortet lasse oder merke, dass ich seit vier Wochen nicht danach gefragt habe, wie es meiner Mutter eigentlich geht. Aber anders als zuvor bemerke ich nun, wann die Dinge aus dem Gleichgewicht geraten. Ich kann dann rechtzeitig gegensteuern. Oder eben in letzter Sekunde. Durchatmen. Mich befreien. Und schließlich ganz freiwillig versagen. Weil’s am Ende gar nicht so schlimm ist. Wirklich nicht.
Ich weiß schon: Keiner braucht Selbstmitleid und erst recht keine Demotivationsrede. Aber das hier soll genau das Gegenteil sein. Es soll euch sagen: Hört endlich auf, Angst zu haben. Davor, nicht auszureichen, weil ihr vermeintlich viel weniger schaffen, aushalten oder leisten könnt, als all die anderen, die ihr nur aus Geschichten kennt. Lasst es einfach sein. Seid ihr. Mehr geht sowieso nicht, mehr ist nicht gesund. Wenn wir uns selbst von der Last frei sagen, zehn Personen in einer sein zu müssen, mit sechs Armen, drei Hirnen und siebzehn Beinen. Wenn wir aufhören, zu denken, wir müssten perfekt sein, um Erfolg zu haben. Wenn wir den Gedanken aufgeben, dass jede von uns in jedem Lebensbereich gleich erfolgreich sein muss. Wenn wir aufhören, anzunehmen, wir müssten zwingend Karriere machen, um einen Wert zu haben. Oder Mütter sein. Dann kann es klappen. Dann verschwinden die Zweifel, die sowieso niemanden etwas nützen. Wir müssen nämlich gar nichts. Aber wir dürfen mit größter Freude und aus tiefster Überzeugung verschieden sein. Wir dürfen nach Hilfe fragen. Wir dürfen viel wollen, oder eben gar nichts. Aber wir müssen uns gegenseitig stützen, immer. Und endlich anfangen, ehrlich zu sein.
Die Wahrheit ist nämlich: Niemand von uns kann „alles“ haben. Nicht alles auf einmal. Noch nicht. Aber wir sind trotzdem: genug.
Ich könnte schon wieder stundenlang weiterschreiben, alles Korrektur lesen, Schlaueres sagen. Aber wisst ihr was? Gar nichts davon mache ich. Ich lasse es einfach gut sein. Weil ich nunmal los muss. Zu meinem Sohn, der mit seiner Laterne auf Mama wartet, die heute Mütze trägt, weil keine Zeit zum Haarewaschen blieb. Ich weiß ehrlich gesagt noch nicht einmal, seit wie vielen Tagen ich jetzt schon den selben BH trage – geschweige denn, was es heute Abend zu essen gibt. Der Kühlschrank jedenfalls ist leer gefegt und ich wüsste wirklich nicht, wie es schaffen sollte, daran noch etwas zu ändern. Also ändere ich, logisch, wohl lieber meine Einstellung.
Scheißt drauf. Den meisten von uns geht’s ganz genau so.