Die Wut steht ihr gut, oder: Warum wütende Frauen sich nicht beruhigen wollen.

Elizabeth Warren, Senatorin von Massachusetts und Kandidatin für die demokratische Präsidentschaftskandidatur 2020, ist vieles: meinungsstark, kritisch, klug und durchaus kontrovers. Für Jo Biden ist seine Konkurrentin vor allem eins: angry, wütend. In einem Beitrag warf er ihr Anfang November vor, mit ihrer Kritik an ihm selbst einen „wütenden, unnachgiebigen Standpunkt“ zu vertreten und deshalb als Präsidentschaftskandidatin ungeeignet zu sein. Warren reagierte umgehend und bissig: „Immer wieder“, schrieb sie in einer Fundraising-E-Mail an ihre Unterstützer*innen, „wird uns gesagt, dass Frauen nicht wütend sein dürfen. Es macht uns unattraktiv für mächtige Männer, die wollen, dass wir ruhig sind.“ Der Betreff der E-Mail lautete: „Ich bin wütend und stehe dazu“.

Wütende Frauen weltweit

Und da ist Warren längst nicht die Einzige: Weibliche Wut, so scheint es, ist allgegenwärtig. Das zeigt sich insbesondere in den USA, wo die Wahl eines sexistischen, misogynen Grabschers und potentiellen Vergewaltigers zum Präsidenten im Januar 2017 landesweit über eine Million Menschen, die Mehrzahl von ihnen Frauen, für den Women’s March auf die Straße brachte. Wo Ende 2017 #MeToo in die Öffentlichkeit platzte. Wo es 2018 ein Mann als Richter an den Obersten Gerichtshof schaffte, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wurde und der konservative bis reaktionäre Ansichten vertritt, wenn es um sexuelle Selbstbestimmung und Abtreibung geht.

 
 
 
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Doch nicht nur die Amerikaner*innen haben eine Menge Gründe, wütend zu sein: Der Women’s March wurde rund um den Globus zelebriert, als Zeichen der Solidarität mit den Amerikaner*innen, aber auch als Protest gegen Missstände und mangelnde Gleichberechtigung im eigenen Land. #MeToo brachte nicht nur Harvey Weinstein zu Fall, sondern auch in so unterschiedlichen Ländern wie Deutschland, Argentinien und China Diskussionen über Sexismus, sexualisierte Gewalt und Macht in die große Öffentlichkeit. Frauen weltweit sind wütend. Vor allem auf Menschen in – politischen – Machtpositionen, die ihre Macht nutzen, um eine reaktionäre Agenda voranzutreiben; die Frauen sowie deren Körper kontrollieren und maßregeln wollen; die rücksichtslos handeln und nur im Interesse derer, die so sind und aussehen wie sie selbst.

Calm down, dear

Dass Frauen wütend sind, ist also kein Wunder. Eher wäre es erstaunlich, wenn sie es nicht wären. Trotzdem wird Frauen immer und immer wieder gesagt, sie sollen nicht wütend sein. Weil wütende Frauen, das hat Elizabeth Warren sehr richtig festgestellt, als unattraktiv gelten, als irrational, als emotional, als die weiblichste Form aller Gefühlsregungen: hysterisch. Eine wütende Frau ist furchterregend, da unkontrolliert. Man(n) kann sie nicht ernst nehmen (und wütende Feminist*innen sowie am allerwenigsten). Frauen, so scheint es, sollten in der Öffentlichkeit am besten überhaupt keine starken Emotionen zeigen. Dass für Männer andere Maßstäbe gelten, versteht sich von selbst: ein wild gestikulierender, emotionaler und offensichtlich wütender Bernie Sanders ist leidenschaftlich und authentisch. Ein Typ, der für seine Überzeugungen kämpft. Eine Elizabeth Warren, die das Gleiche tut, ist dramatisch und inkompetent. Eine Frau, die sich einfach mal beruhigen soll. Calm down, dear.

[typedjs]Männer dürfen zeigen, wenn sie wütend sind, sauer, verärgert. Frauen halten sich besser zurück. Umso mehr, wenn sie keine weißen Frauen sind. [/typedjs]
 
 
 
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Ein Beispiel: Serena Williams. Die kassierte während ihres Matches gegen Naomi Osaka bei den US Open 2018 eine Verwarnung wegen unerlaubten Coachings ihres Trainers. Williams fühlte sich zu Unrecht bestraft und sagte Schiedsrichter Carlos Ramos: „Ich betrüge nicht, um zu gewinnen. Lieber verliere ich“. Sichtbar wütend darüber, dass ihr Charakter und ihre Integrität in Frage gestellt wurden, zertrümmerte sie ihren Schläger und nannte Ramos einen „Dieb“, was ihr eine Strafe einbrachte. Die Reaktionen waren harsch: In der Öffentlichkeit und den Medien wurde Williams in atemberaubender Geschwindigkeit zur „angry black woman“ hochstilisiert, eine von Natur aus schlechtgelaunte, ungesittete, laute Frau. Eine Frau, die man nicht ernst nimmt, sondern belächelt. Dass es etliche ähnliche Vorfälle mit männlichen Tennisspielern gab, im Vergleich zu denen Williams „Dieb“-Beschimpfung nahezu nett wirkt – geschenkt. Wenn weiße Frauen ihre Wut nicht zeigen dürfen, dann gilt das für schwarze Frauen erst recht. 

Revolutionäre Wut

Wut mag als unweiblich und unattraktiv gelten, als etwas, das es zu unterdrücken gilt – die Geschichte ist trotzdem (oder gerade deswegen) voll mit wütenden Frauen. So wurde das Frauenwahlrecht in Deutschland nicht nur von den bürgerlichen Frauenrechtlerinnen erkämpft, die auf geduldige Lobbyarbeit setzten, um wohlgesonnene Männer zu überzeugen. Sondern auch von den sozialistischen und proletarischen Frauenrechtlerinnen, die laut und – aus heutiger Sicht – nahezu krawallig auftraten und die, ja, offensichtlich wütend über die herrschenden Verhältnisse waren. Die US-amerikanische Bürgerrechtlerin Rosa Parks wurde bekannt als die Frau, die sich 1955 sehr höflich weigerte, ihren Platz im Bus für einen weißen Fahrgast freizumachen. Als eine stoische, sittsame Frau, die kein großes Aufheben machen wollte, die einfach müde war nach einem langen Arbeitstag. Tatsächlich war sie wütend, eine laute Aktivistin, die gegen Vergewaltigungen kämpfte und schon als Zehnjährige einen weißen Jungen, der sie angriff, mit einem Ziegelstein bedrohte. Zu Beginn der französischen Revolution 1789 zogen etwa 6000 Frauen mit dem Schlachtruf „Versailles schlemmt, Paris hungert“ zum königlichen Schloss nach Versailles. Dort wurden sie von Ludwig XVI. empfangen, der ihnen die Lieferung von Lebensmitteln versprach – den wütenden und hungrigen Frauen reichte das nicht: Am nächsten Tag drangen sie, unterstützt von Nationalgardisten, ins Schloss ein und zwangen den König zum Umzug nach Paris.

 

Es zeigt sich: Wut, zumal weibliche, hat revolutionäres Potenzial. Sie war und kann ein Katalysator für gesellschaftliche und politische Veränderungen sein. Kein Wunder, dass sich gleich mehrere aktuelle Bücher mit dieser Wut und ihrer Notwendigkeit beschäftigen, darunter Rage Becomes Her. The Power of Women’s Anger von Soraya Chemaly (2018, Simon & Schuster), Eloquent Rage. A Black Feminist Discovers Her Superpower von Brittney Cooper (2018, St. Martin’s Press), Burn It Down. Women Writing About Anger, herausgegeben von Lilly Dancyger (Seal Press, 2019) und Good and Mad. The Revolutionary Power of Women’s Anger von Rebecca Traister (2018, Simon & Schuster). Traister schreibt:

[typedjs]„Wir müssen begreifen – jene von uns, die Wut fühlen, die sich bemüht haben, sie zu verbergen, die über ihre schlechten Auswirkungen besorgt sind, die sich dagegen aufbäumen und versuchen, sie in uns selbst zu unterdrücken, aus Angst, dass sie rauszulassen unseren Zielen schadet – dass diese Wut oft ein überbordender Ausdruck ist. Sie ist die Macht, die Energie, Intensität und Dringlichkeit in Kämpfe einspeist, die intensiv und dringlich sein müssen, wenn sie gewonnen werden sollen. Allgemeiner gesagt müssen wir unsere eigene Wut als berechtigt und als rational begreifen, und nicht als das, was uns gesagt wird, was sie ist: hässlich, hysterisch, geringfügig, lächerlich.“[/typedjs]

Der Wert von Wut

So unterschiedlich die vier Bücher sind, sie alle analysieren weibliche Wut als rationale Antwort auf systemische Unterdrückung – und stehen damit in der Tradition afroamerikanischer Feminist*innen wie Audre Lorde (The Uses of Anger) oder bell hooks (Killing Rage). Wut wird als etwas Positives, Notwendiges begriffen. Allerdings: Wut ist nicht gleich Wut. Soll heißen: Nicht jede Art von Wut hat automatisch Gestaltungsmacht, ist gut und gerecht. Wut, auch weibliche, das zeigt die Geschichte, das zeigen die Ereignisse der letzten Jahre, kann dann produktiv und transformativ sein, wenn sie gerecht ist, wenn sie nicht auf einem falschen Gefühl von Unterdrückung basiert, oder darauf abzielt, andere zu marginalisieren. Die AfD, Donald Trump, benutzen Wut als politisches Stilmittel – aber ihre Wut ist nicht produktiv, weil sie sich Ressentiments und Ängste zu Nutze macht, um Stimmung gegen Minderheiten zu machen, auszugrenzen und zu spalten.

 
 
 
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Wenn gerechte – weibliche – Wut so gut und notwendig ist, stellt sich natürlich die Frage, ob diese Wut an sich schon einen Wert hat. Anders gesagt: Ich bin wütend – und jetzt? Tatsächlich, auch das zeigt die Vergangenheit, haben individuelle Handlungen, in denen sich Wut ausdrückt, nur eine eingeschränkte Reichweite. Es brauchte und braucht immer noch andere wütende Menschen, die sich anschließen, die sich gegenseitig bestärken und verstärken. Wut wird so zu einer Form der Verbindung, des Zusammenschlusses, insbesondere unter Frauen.

Die Arbeit endet nicht, wenn man seiner Wut Luft gemacht hat. Sie fängt erst an. Vielleicht besteht die Kunst vor allem darin, wütend zu bleiben – die Wut nicht verpuffen zu lassen, sondern sie produktiv als Treibstoff zu nutzen. Oder, wie Rebecca Traister es formuliert: „Wut hat Frauen dazu gebracht, eine Million Herangehensweisen zu entwickeln, um die Welt zu verändern.“

2 Kommentare

  1. Pingback: Weibliche Wut - ein Zwischenstand - hey me

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