Für euch bin ich Roberta, 27, halb Single, halb verknallt. Ich mag Klebeband und Brokkoli, trinke morgens kalte Milch und abends auch, für Sex-Wangen und weiße Zähne, ich rede viel und wenn niemand mehr antwortet, warte ich taubstumm auf die große Liebe. Es gibt im Leben immer jemanden, der schlimmer ist als du, irgendwen, der doppelt so viel raucht, noch mehr säuft, verbockt oder wiegt. Ein beruhigendes Gefühl. Bis gestern. Da bin ich aufgewacht und erschrocken, wegen der Wahrheit, die da auf meinem Nachttisch lag. Ich nenne sie treulos „Bibel“, obwohl ich immerhin mit dem alten Testament etwas anfangen kann: Auge um Auge Zahn um Zahn, das leuchtet mir ein. In meiner eigenen Bibel finden sich ähnlich viele Namen wie im Original, 73 Fotos und um die tausend Kritzeleien, chronologisch angeordnet. Der Stammbaum meines Liebeslebens, bloß meistens ohne Liebe, jedenfalls beim Gegenüber.
Letztens im Buchladen stand ein Mann vor mir, vielleicht auch ein Mannjunge, er muss fast 30 gewesen sein, älter nicht, das blonde Haar kraus und eingeklemmt zwischen Brillenbügeln. „Was suchst du denn?, fragt er mich, während ich in Michelinmännchenstellung und kopfüber das Regal nach Martin Suter absuche. „Hab‘ ich grad vergessen und jetzt gucke ich einfach so, ohne Ziel, denn über das Ziel hinausschießen ist ebenso schlimm wie nicht ans Ziel zu kommen1„, sage ich mit rotem Kopf, aber nicht wegen ihm, sondern vor Anstrengung; ich halte Orangensaft to Go und ein zu großes Handy zwischen drei Fingern, zwei Postpakete unterm Arm und an meinem Rücken hängt ein Beutel mit steinschwerem Laptop und Tabakresten drin. „Dann suche ich dir jetzt eins“, antwortet der Mannjunge, „und du mir.“
Das ist der Moment, in dem ich nichts mehr weiß. Weder, welcher Roman empfehlenswert ist, noch, ob ich jemals einen empfehlenswerten Roman gelesen habe. Konstellationen wie diese bedrängen mich, da wird mir ganz heiß und die Nase fängt zu laufen an. Das ist es, deshalb mag ich keine Dates, alles dreht sich nur um den ersten und guten Eindruck, um etwas, das mehr Berechnung als Bauchgefühl ist. Im Zweifel kann man doch einen kompletten Charakter erfinden und sich mithilfe feister Schlüsselbegriffe zum perfekten Gegenüber formen, das Blaue vom Himmel herunter versprechen. Wenn man denn nur die Zeit dazu hat. Ich habe keine Zeit, jedenfalls jetzt nicht, weil ich nicht will. Ich knalle dem Mannjungen „Nachtzug nach Lissabon2“ vor die Brust, ohne ihm in seine smaragdgrünen Schlangenaugen zu sehen. Ein Standardwerk unter Studenten, denke ich, damit kann man ebenso wenig versagen wie imponieren. Er reicht mir „Nichts als Gespenster3„, auf dem Buchrücken steht: „Diese Geschichten sind so traumverloren, traurig, liebessuchend, abschiednehmend, weiterfragend, zweifelnd, verzweifelt, glücklich neubeginnend….“. Alles gleichzeitig. Ich bin das Buch, das der Mannjunge mir ausgesucht hat. Dafür bekommt er einen Platz in meiner Bibel.
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1 Zitat: Konfuzius
2. Roman: Nachtzug nach Lissabon, Pascal Mercier
3. Kurzgeschichten: Nichts als Gespenster, Judith Hermann
Nächsten Freitag geht’s weiter ♥