„Street Haunting“, oder: Der Tag, an dem ich das Verirren lernte

In den letzten Wochen und Monaten bin ich viel spazieren gegangen. Wenn ich den ganzen Tag mit zunehmend glasigeren Augen auf meinen Computer-Bildschirm gestarrt hatte, meine Gedanken wie Flöhe in meinem Kopf herumsprangen und die Welt da draußen ans (dreckige) Fenster klopfte und sagte „Hallo, kennst du mich noch?“ – dann war es so weit. Ich warf schnell ein paar Sachen in eine Tasche und lief los. Ich lief vom Winter in die ersten warmen Frühlingstage und hinein in den Sommer. Ich atmete kalte, dann zunehmend wärmere Luft ein. Ich sah, wie Berlin sich verwandelte, aufblühte, bunter wurde.

Liebe zur Stadtschaft

Auch Virginia Woolf liebte das Spazierengehen in der Stadt. Für sie ist das, was sie liebevoll als „street haunting“ beschreibt, eine Art der Flucht, ein Abenteuer, ein Vergnügen. Man tritt hinaus, auf die Straßen der Stadt, und lässt einen Teil seiner selbst in seinem Haus zurück, wie eine schützende Hülle – übrig bleibt eine „Auster des Wahrnehmungsvermögens, ein riesiges Auge“. Und dieses Auge wandert nun durch die Stadt, erfreut sich an Schönem und weniger Schönem, bemerkt, entdeckt, erforscht. Natürlich ist es angenehm, einen Spaziergang in der Natur zu machen, Waldluft einzuatmen, durch Felder zu laufen und seinen Blick über das Grün einer Wiese schweifen zu lassen. Auch ich mag die Natur – aber noch mehr mag ich die „Stadtschaft“, wie Marcel Proust es nennt, spuke ich à la Woolf durch die Straßen. Zu Recht forderte der Berliner Schriftsteller und leidenschaftliche Flaneur Franz Hessel: „Gebt der Stadt ein bisschen ab von eurer Liebe zur Landschaft!“

 
 
 
 
 
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Hessel ist es auch, der Flanieren definiert als „eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neues Buches ergeben.“ Und tatsächlich: Obwohl ich mich selbst nicht als Flaneurin bezeichnen würde – ich laufe zu schnell und wähle meistens die mir vertraute und liebgewonnene Strecke von Schöneberg über Kreuzberg nach Mitte und zurück nach Schöneberg –, entdecke ich bei jedem Spaziergang etwas Neues. Ein Straßenname, den ich vorher nicht bemerkt habe, ein Geschäft, das mir vorher nicht aufgefallen ist, ein Hinterhof, an dem ich sonst immer nur vorbeigegangen bin. So wird mir die Lektüre der Stadt nie langweilig.

Verirren lernen

Als ich vor zehn Jahren eine Zeitlang in Paris lebte, fuhr ich anfangs fast ausschließlich mit der Métro. Bei meinen verschiedenen Aufenthalten in Paris war ich zuvor immer viel gelaufen, hatte mir die Stadt erlaufen. Aber dieses Mal war anders: Ich war keine Urlauberin, ich musste pünktlich zu meiner Arbeit in der Redaktion kommen, pünktlich zu meinen Interviews und Terminen in den verschiedensten Ecken der Kapitale. Ich hatte kein Smartphone, auf dem ich via Google Maps schnell nachschauen konnte, wie ich wo am besten hinkomme. Also nahm ich die Métro, die mich verlässlich ans Ziel fuhr. Es war Hochsommer und sehr heiß, manchmal wurde gestreikt und die Métro kam gar nicht oder war völlig überfüllt. Trotzdem nahm ich die Métro. Bis ich kurz vor Ende meines Aufenthalts zufällig herausfand, dass die Redaktion zu Fuß nur circa eine halbe Stunde von meiner Wohnung entfernt war. Wie konnte das sein? Warum war mir das vorher nicht aufgefallen? Ich kam mir naiv vor und so, als hätte ich mich selbst beklaut. So, als hätte meine Beziehung zu Paris sich grundlegend ändern können, wenn ich morgens zur Arbeit gelaufen statt gefahren wäre.

Was mir damals fehlte, war nicht nur ein Smartphone inklusive Google Maps – sondern auch die Bereitschaft, der Stadt die Führung zu überlassen, mich ihr hinzugeben. Mich in ihr zu verlieren. Der Philosoph Walter Benjamin sagt: „Sich in einer Stadt zurechtzufinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockner Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln.“ Wahrscheinlich haben wir heute kollektiv verlernt, uns zu verirren. Wir werfen lieber einen schnellen Blick auf virtuelle Karten, statt uns durch die Straßen treiben zu lassen und gelassen-neugierig darauf zu warten, wo diese uns hinspülen.

 

 
 
 
 
 
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Ein wildes Verlangen

Spazieren zu gehen und das für ein, zwei Stunden, kommt mir immer noch wie ein unerhörter Luxus vor. Wer hat denn heute noch die Zeit dafür? Aber ich habe festgestellt: Wenn ich mir diesen Luxus nicht regelmäßig erlaube, bin ich unzufriedener, unausgeglichener, unglücklicher. Es ist die eine Gewohnheit, die ich dank Corona kultiviert und auch jetzt, nach dem Ende der Selbstisolation, beibehalten habe. Cafés und Bars, Museen und Geschäfte, alles hatte zu, aber die Straßen Berlins waren weiterhin offen, bereit für mich und mein neugieriges Auge. Die Coronakrise löste in mir ein absolutes und wildes Verlangen aus, mir diese, meine Stadt, anzueignen. Mich zu vergewissern, dass sie noch da war, trotz allem, und immer für mich da sein würde. Ich bin in Berlin schon immer viel gelaufen – offenbar habe ich aus meinen Pariser Fehlern gelernt – aber mittlerweile ist Spazierengehen zu einem Bedürfnis geworden. Zu etwas, das ich selbstverständlich in meinen Tagesablauf einplane, dem ich Priorität einräume. Ich laufe und laufe und merke dabei, wie die Flöhe in meinem Kopf sich beruhigen, wie ich ein- und ausatme, wie mein Blick wieder schärfer wird. Wenn ich loslaufe, bin ich oft angespannt, müde, genervt. Doch wenn ich wieder zu Hause ankomme, fühle ich mich runderneuert. Jedes Mal.

Besonders gerne mache ich meine Spaziergänge morgens, wenn die Stadt gerade erst erwacht. Das klappt meistens nur am Wochenende, weil ich als Frühaufsteherin die Morgenstunden unter der Woche produktiv nutzen will. Aber welch eine schöne Art, den Samstag zu beginnen! Während ich laufe, reckt und streckt Berlin sich, blinzelt der Sonne entgegen und gähnt laut. Ich laufe, um mich herum die Stadt, meine Stadt, in mir dieses unbeschreibliche Gefühl von Freiheit – und Virginia Woolfs Worte: „And what greater delight and wonder can there be than to leave the straight lines of personality and deviate into those footpaths that lead beneath brambles and thick tree trunks into the heart of the forest where live those wild beasts, our fellow men?”

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