(Un)erwachsen: Urlaub in der Matrix oder warum manchmal nur Realitätsflucht hilft

Es gibt eine Filmszene, die ich nie verstanden habe. Neo, Protagonist des Sci-Fi-Klassikers “Matrix” und Auserwählter Retter der Menschheit™, wird von seinem neuen Bekannten Morpheus vor eine alles entscheidende Wahl gestellt: Schluckt er eine blaue Pille und alles bleibt, wie es ist? Oder nimmt er die rote und erfährt, warum sein ganzes bisheriges Leben eine Lüge war? Neo entscheidet sich für die rote Pille und findet heraus, dass er gar nicht in einer US-amerikanischen Großstadt Ende der 90er lebt, sondern in einem dramatisch ausgeleuchteten Glascontainer. Er ist kein langweiliger Angestellter einer IT-Firma, sondern eine menschliche Batterie für Maschinenwesen – die einzigen Organismen, die noch frei in einer düsteren, komplett zerstörten Welt leben. Cool.

Klar, das konnte er vorher nicht wissen. Morpheus hat nicht gefragt: “Willst du in einer okayen Lüge leben oder in einer abgefuckten Welt ohne Cremant und trockene Minisalamis, in der jeder löchrige Schlabberpullis in Grau- und Beigetönen tragen muss, die aussehen, als wären sie aus der vorletzten Yeezy-Kollektion?” Aber sollte Neo seine Pillenwahl nicht spätestens dann bereuen, als ihm klar wird, was für eine Shitshow diese vermeintliche Realität wirklich ist?

 
 
 
 
 
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Alles, was danach in “Matrix” passiert, ist für mich von der absoluten Dummheit dieser Entscheidung überschattet. Die einzige Person, mit der ich auch nur im Ansatz mitfühlen kann, ist Cypher, der ebenfalls von Morpheus “gerettet” wurde. Cypher hat zwar die Art von überzeichnetem Scherzbart, die ihn direkt als noch unerkannten Neben-Antagonisten enttarnt, aber in einer Sache absolut Recht: Er will zurück in die Simulation. Und bereut nichts mehr als den Moment, in dem er sich für die rote Pille entschieden hat.

Als “Matrix” rauskam, war ich 10. Den Film habe ich erst Jahre später gesehen, Realitätsflucht war für mich aber schon lange davor ein Thema.

Denn seien wir mal ehrlich: So richtig geil war das echte Leben noch nie. Die Menschen, die man liebt, sterben. Wer nicht weiß, heterosexuell, cis ist, wird dafür angegriffen, verfolgt, diskriminiert. Vielleicht lebt man mit einer Krankheit, vielleicht in Armut, vielleicht in einem Kriegsgebiet, vielleicht auch alles auf einmal. Und selbst wenn man sich gemütlich unter dem gerahmten “Hygge”-Bild in seiner Eigentumswohnung eingemummelt hat, die immer sauber ist, weil man anderen Menschen Geld dafür gibt, dass sie für einen Haare aus dem Duschabfluss fischen – irgendwas ist ja immer. Wenn uns der Klimawandel nicht den Rest gibt, dann sind es frauenhassende Neonazis, die ausschließlich mittels rassistischer Memes und Fortnite-Tänze kommunizieren, und sich auf 4chan dafür beglückwünschen, die “Red Pill” geschluckt zu haben und endlich zu verstehen, dass weiße Männer die eigentlichen Opfer dieser Welt sind. Cool, cool. cool. Kann ich die blaue Pille nochmal sehen?

Als Teenager hatte ich eine Lieblingsserie: “The Tribe” spielte in einem apokalyptischen Endzeit-Szenario, in dem alle Erwachsenen tot waren und die verbliebenen Kinder damit kämpften, eine irgendwie funktionierende Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Der für mich spannendste Bösewicht, Ram, konnte es nicht mehr ertragen, in dieser Welt gefangen zu sein. Also baute er sich eine virtuelle Realität, in der alles schöner, besser, erträglicher war. In der er nicht länger im Rollstuhl saß, sondern laufen konnte.

Realitätsflucht bedeuteten für mich damals vor allem Bücher, Schreiben, Zeichnen, Videospiele. Alles, was mir für Stunden das Gefühl gab, mich nicht mit der Wirklichkeit auseinandersetzen zu müssen. In der Realität hatte ich eine chronische Krankheit, wurde ich wegen meinem Körper gemobbt und musste dabei zusehen, wie meine Familie kaputtging.

 
 
 
 
 
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Ein Beitrag geteilt von Shamiya.M.Disney-Love Jackson (@rainbowgoddessoflove)

[typedjs]In meiner eigenen Version der Matrix, meiner ganz persönlichen Simulation, lief ich gedanklich mit Romanfiguren durch das Rom der Antike, zeichnete ich stundenlang Körper, die schöner waren als mein eigener, spielte ich “Super Mario Land” auf dem Game Boy, bis mich ein hysterischer Wutanfall wegen eines verkackten Sprungs im vorletzten Level zurück in die Realität holte. [/typedjs]

Heute leere ich nach einem besonders stressigen Arbeitstag drei Gläser Wein und nenne es Self-Care, mache damit aber eigentlich auch nichts anderes, als die Realität ein bisschen dumpfer, wärmer, erträglicher zu machen. Wie Millionen andere verantwortungsvolle Erwachsene.

 

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– Diese Kolumne von Lisa Ludwig wurde zuerst bei der deutschen Vogue veröffentlicht, wo ihr den Beitrag weiterlesen könnt  –

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