Şeyda Kurt über radikale Zärtlichkeit: “Füreinander da zu sein ist nicht nur in traditionell monogamen Beziehungen möglich”

18.05.2021 Interview

Şeyda Kurt ist freie Journalistin und Autorin, Moderatorin und wirkte bei unterschiedlichen Podcasts mit, wie etwa “190220 – Ein Jahr nach Hanau”, der Anfang des Jahres bei Spotify erschien. Im April veröffentlichte sie ihr Buch “Radikale Zärtlichkeit”, in dem sie romantische Narrative und die damit verbundenen politischen, geografischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse beschreibt, die unser Miteinander immer noch strukturieren. Es ist fast Mittag, als wir miteinander telefonieren und über romantische Beziehungen und Freund:innenschaft reden. 

Wie politisch sind Beziehungen?

Şeyda Kurt: Beziehungen sind sehr politisch, ich würde sogar sagen, dass es kaum eine Sphäre unseres Lebens gibt, die nicht politisch ist. In dem Vorwort zu meinem Buch erwähne ich das Unsichtbare Komitee, ein Kollektiv aus Autor:innen und Aktivist:innen, die schreiben, dass alles politisch ist, was mit Konflikt oder Reibung zwischen Lebensformen zu tun hat. Ich denke, dass das gerade in intimen Beziehungen, der Liebe oder in der Freund:innenschaft sehr ausgeprägt ist. Es geht dabei sehr viel um Fragen wie: Wer kann sich in einem Konflikt für die eigenen Bedürfnisse stark machen? Wessen Bedürfnisse werden gesehen und wer kann diesen Raum, wenn er in Gewalt umschlägt, verlassen? Wer hat die ökonomischen Ressourcen?

[typedjs]Die binäre Denke von privat vs. öffentlich, die in unserer Gesellschaft sehr stark ausgeprägt ist, sorgt [dafür], dass kapitalistische und patriarchale Ausbeutungsverhältnisse einfach stabilisiert werden. [/typedjs]

Warum ist es gefährlich zu denken, dass Beziehungen ausschließlich individuell und eben nicht politisch sind?

Das hat unterschiedliche Gründe, erstens ist da die binäre Denke von privat vs. öffentlich, die in unserer Gesellschaft sehr stark ausgeprägt ist und dafür sorgt, dass kapitalistische und patriarchale Ausbeutungsverhältnisse einfach stabilisiert werden. Oft wird angenommen, dass die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre naturgegeben ist, aber sie geht unter anderem auf Denker wie Aristoteles zurück. Sie hat sich in der westeuropäischen Philosophie stark ausgeprägt und schon immer dazu gedient, gewisse Herrschaftsverhältnisse und geschlechtliche Ungleichheit zu stabilisieren. Dazu gehört zum Beispiel, dass Frauen dem privaten Raum zugeordnet werden, für Haus- und Care-Arbeit zuständig sind und das Öffentliche und Politische dagegen die männliche Sphäre ist. Auch der Kapitalismus lebt von dieser Trennung, wo in der Öffentlichkeit die Politik und die Wirtschaft ablaufen und das Private sozusagen die Angelegenheit der Individuen ist. Das sind die philosophischen Gedanken dazu, grundsätzlich eröffnet es uns aber auch einfach Handlungsspielräume, wenn wir Sachen politisieren oder von Grund auf politisch betrachten, es zeigt uns, dass diese Dinge veränderbar sind, genauso wie Politik veränderbar ist. Das ist auch eine politische Verantwortung, die damit einhergeht.

 
 
 
 
 
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In Ihrem Buch erzählen Sie von dem Film “Selvi Boylum Al Yazmalım” (Deutsch: “Das Mädchen mit dem roten Kopftuch”) aus dem Jahr 1977 und davon, dass er Sie stark geprägt hat, weil seine Darstellung von romantischer Liebe vielschichtiger war, als die in den meisten Filmen, die im deutschen Fernsehen liefen – unabhängig davon, ob es deutsche oder US-amerikanische Produktionen waren.

Ich war eher selten mit diesen romantischen Hollywooderzählungen von Liebe konfrontiert, wir haben hauptsächlich türkisches Fernsehen geschaut und “Selvi Boylum Al Yazmalım” lief bei uns eigentlich auf und ab. In diesen Filmen wurde der Struggle von Menschen, die sich auf irgendeine Art und Weise aneinander annähern oder ein gemeinsames Leben organisieren wollen, ganz anders dargestellt als es in Hollywoodfilmen gezeigt wurde und das ist ja immer noch so. Viele Liebesfilme werden erzählt, als wenn sie irgendwo im luftleeren Raum spielen würden. Wenn ich mir das anschaue, denke ich immer: “Müsst ihr kein Geld verdienen?” Es geht immer darum, dass sich zwei Menschen mögen und zueinander finden, aber die politischen Bedingungen, unter denen das abläuft, werden komplett ausgeblendet.

Die meisten spielen ja auch ausschließlich im bürgerlichen Milieu.

Ja, da hat man dann vielleicht auch keine großen Geldsorgen. In dem Sinne war “Selvi Boylum Al Yazmalım” ein politischer Film, auch wenn ihm keine offenen politischen Forderungen zugrunde lagen, aber indem er sich mit Armut, struktureller Verelendung und Abhängigkeiten zwischen Frau und Mann auseinandersetzte, angesiedelt im politischen Kontext der damaligen Türkei. Ich habe später erst gemerkt, dass das ein sehr großer Gewinn war. In meinem Buch beschäftige ich mich auch sehr viel mit dem Thema Wissen und woher Wissen kommt, zum Beispiel über die romantische Liebe. Die Tatsache, dass ich mit einem anderen Wissen und anderen Repräsentationen über die romantische Liebe aufgewachsen bin und nicht in diesen Kanon von “allgemeinem Wissen” hineingeboren wurde, ist kein Makel, sondern eine Bereicherung. Das habe ich aber auch erst während der Arbeit an dem Buch gemerkt.

 
 
 
 
 
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[typedjs]Die romantische Liebe [hat] in westlichen Erzählungen als eine Form der Emanzipation funktioniert. Eine Vorstellung der Emanzipation gegen die patriarchale Vormachtstellung, vor allem gegen die des Vaters.[/typedjs]

Das galt hauptsächlich für das Bürgertum, oder? Und gleichzeitig bedeutete diese Form der Emanzipation auch Unterdrückung.

Menschen aus der Arbeiterklasse oder marginalisierte Menschen kamen vielleicht nicht in den Luxus dieser Erfahrung, dass eine romantische Verbindung mit einem Menschen völlig zweckbefreit ist. Hinzu kommt, das feministische Bewegungen irgendwann in den Siebzigern anfingen, sich mit dem Mythos der Liebe auseinanderzusetzen. 

 
 
 
 
 
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Der Mythos der Liebe, die sich gegen alle politischen Grässlichkeiten durchsetzt und die gegen die Ungerechtigkeit triumphiert und sie aufhebt. Aber letztendlich dient die Vorstellung der romantischen Liebe nur der monogamen Zweierbeziehung und im bürgerlichen Sinne dazu, die Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern zu manifestieren und weiter zu verstärken.

Das hat etwas damit zu tun, worüber wir eben schon einmal gesprochen haben, oder?

…damit, dass im Namen der Liebe alles erlaubt sein muss. Die Frauen gehören zum Haus und die Frauen sind für das Haus und die Care-Arbeit zuständig – aus Liebe und weil es ihre vermeintlich weibliche Natur ist, sich aufzuopfern. Für die romantische Liebe und für die Familie.

[typedjs]Die Vorstellung der bürgerlichen monogamen Beziehung […] als zivilisierendes Ordnungsprinzip […] führt sich bis heute sehr stark fort.[/typedjs]

Die Feministin Silvia Federici hat dazu einen sehr bekannten Satz gesagt, auf den Sie auch eingehen: “Ihr nennt es Liebe, wir nennen es unbezahlte Arbeit!”

Wie Sie es auch vorhin schon angesprochen haben, blendet die Vorstellung, dass die Liebe ein rein emanzipatorisches Potential hat, aus, dass diese Vorstellung auch direkt dazu genutzt wurde, um bestimmte Unterdrückungsverhältnisse zu rechtfertigen, wie im Kolonialismus. Ein Beispiel dazu sind die Forschungsergebnisse der Historikerin Gabriele Metzler, die im Grunde erzählt, wie deutsche Kolonialisierer ins heutige Namibia kamen, die Menschen versklavten, ausbeuteten und ermordeten. Dabei spielten gewisse Marker eine Rolle, die die vermeintliche Unzivilisiertheit dieser Menschen beweisen und rechtfertigen sollten. Einer dieser Marker war die Vorstellung der bürgerlichen monogamen Beziehung, sie wurde als zivilisierendes Ordnungsprinzip angeführt und das führt sich ja auch bis heute sehr stark fort. In manchen Kreisen ist es hip und cool, nicht mehr monogam zu sein, aber die Frage ist auch dann immer, wer von dieser Abweichung der vermeintlichen Norm wieder ausgeschlossen ist. Wer kann es sich erlauben, wer hat dieses Privileg? Wer läuft dagegen Gefahr? Das sehen wir immer wieder bei antimuslimischen Debatten zur vermeintlichen Vielehe in muslimischen Kreisen. Dass sie angeblich nicht monogam sind, ist für muslimisch gelesene Menschen immer noch eine sehr stigmatisierende und entmenschlichende Zuschreibung. Ich plädiere dafür, diese Dinge in ihren politischen und historischen Verhältnissen zu betrachten, da sie Menschen eben auch sehr unterschiedlich betreffen können.

VOGUE COMMUNITY

– Dieses Interview von Carmen Buttjer wurde zuerst bei Vogue Germany veröffentlicht. Dort könnt ihr das Interview weiterlesen. –

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