JW Community: Flugscham, Fair Fashion und #plasticfree – Wie scheinheilig leben wir?

In unserem Format „5 Frauen“ lassen wir regelmäßig unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen. Jetzt wollen wir auch eure Meinungen, Gedanken und Erfahrungen zu verschiedenen Themen hören, um Diskussionen und einen Austausch zu fördern. In „JW Community“ stellen wir euch deshalb künftig Fragen, die uns beschäftigen und über die wir mit euch sprechen wollen. Natürlich könnten wir auch einfach unsere Ansichten heruntertippen, jetzt geht es aber vor allem um EURE – ihr seid also herzlich dazu eingeladen, eure Ansichten und Überlegungen fleißig in den Kommentaren zu teilen.

Wie scheinheilig leben wir?

Fabienne

Gestern habe ich online bei H&M bestellt und heute schäme mich. Ich schäme mich ganz ehrlich vor meinem Partner, vor meinen Freund*innen und vor mir selbst für die Sale-Schnapper, die binnen der nächsten drei Tage auf meiner Türschwelle stehen werden. Natürlich will ich den H&M Trend Strick-Woll-Pullover wertschätzen, ihn richtig lange pflegen und behalten. Ihn zu einem heiß geliebten Bestandteil meines Kleiderschrankes machen. Aber sprechen wir hier schon von Selbstbetrug,  noch von Wahrheit oder eher von Wunschdenken? Ich habe mich für meine Spanienreise im September geschämt, für den Plastikmüll, den ich erst gestern in den Hof gebracht habe und für das Käsebrot auf meinem Frühstücksbrett. Es ist nicht so, als würde mich jemand direkt verurteilen oder ausbuhen. Viel eher bin ich mir selbst meiner ethisch-sozial-ökologischen Vergehen bewusst und sehe mich stets in einer Rechtfertigungsschleife. Ich will ehrlich sein: In meinem Klimaaktivismus gibt es Luft nach oben, zuweilen, weil mir die Umsetzung vieler Dinge schlichtweg schwerfällt oder ich immerzu merke, wie inkonsequent ich bin. Und dann ist es die Masse an Veränderungen, die die Umsetzung der neuen, nachhaltigeren Agenda erschwert, wenn man mich fragt. Ernährung umstellen, zum Beispiel, erfordert Disziplin und Zeit – schon im Kleinen. Aber bin ich ein schlechter Mensch, weil ich nicht die Muße habe, zum Unverpackt Laden zu jetten? Ich verbringe oft Stunden auf Kleiderkreisel, Flohmärkten oder in Second-Hand Läden, kann es mir bei dem Ausmaß meines Hinterteils allerdings nicht erlauben, neue Jeans auf gut Glück zu kaufen oder bin enttäuscht, weil es meine Größe nicht gibt. Meine Idee: Sich in den Veränderungen und Umstellungen im Alltag auf einzelne Baustellen konzentrieren,

Änderungen vielleicht zum Monatsprojekt erklären und im Nachgang schauen, wie es funktioniert. Streng, aber nicht zu hart zu sich sein und sich regelmäßig über Misserfolge und Fortkommen mit anderen Austauschen. Ich schaffe es inzwischen auf fast alle der in Plastik verpackten Shampoos und Seifen in meinem Haushalt zu verzichten und komme immer besser mit dem Menstruationscup zurecht. Auch mein Fleischkonsum ist im Vergleich zur Vergangenheit nur noch marginal. Bestimmt 60 Prozent meines Kleiderschrankes ist tatsächlich gebraucht und wird innig geliebt. In meinem Verständnis rührt viel des klimaaktivistischen Frusts von Überforderung, dem Eindruck der Selbstgeißelung und der Entrüstung über Verbote und Regeln. Vielleicht können wir es uns selbst leichter machen, indem wir uns persönliche Klimaziele setzen, bevor wir in richtig große Fußstapfen treten wollen.

Sarah 

Ich glaube ja, die Scham hilft uns am meisten dabei, Veränderungen einzuläuten, weil es uns speziell vor anderen unangenehm ist, als ignorante Klimasünder*in wahrgenommen zu werden. So kaufte ich letztens Kaffee für das gesamte Team – und hatte natürlich keine vier wiederverwertbaren Cups dabei. Ich fühlte mich so wahnsinnig schlecht, als ich mit diesem Pappträger und vier Einwegbecher gefüllt mit Hafermilch-Cappuccino über die Straßen lief. Natürlich hätte ich auf mitgebrachten Kaffee verzichten können, aber ich wollte dem Team so sehr eine Freude machen, sodass ich darüber hinwegsah. Also wiederholte ich im Geiste permanent Sätze wie „Normalerweise mache ich das nicht.“ oder „Genau, auch ich verurteile heimlich Menschen, die sich ständig mit To-Go-Kaffee schmücken“. Aber was kümmert es mich eigentlich, was andere denken? Enorm viel dieser Tage, zumindest was das kollektive Nachhaltigkeitsbewusstsein angeht. Dabei sollte ich doch ganz bei mir bleiben, immerhin weiß ich am allerbesten, wie häufig und wie (in)konsequent ich nachhaltig lebe. Und genau das macht es doch auch irgendwie scheinheilig, oder? Dieses vermeintliche „so tun als ob“. Ich weiß selbst, dass ich alles andere als stringent und komplett nachhaltig bin, aber ich gebe mir größte Mühe, daran wachsen zu können.

Und so führe ich eben weiterhin Dialoge mit mir selbst, die in etwa so klingen: Du bist dieses Jahr erst dreimal geflogen (davon hätte man einmal ganz sicher durch die Bahn eliminieren können), habe mein Konto zu einer nachhaltigen Bank verfrachtet, lebe seit fünf Monaten komplett vegetarisch und pflanze das Thema „Nachhaltigkeit“ so gut es geht bei jeder Gelegenheit. Mein Badezimmer ist mittlerweile ein Mekka an Naturkosmetik und auch meine technischen Endgeräte haben schon ein paar Jahre auf dem Buckel und müssen keineswegs erneuert werden. Klar haben wir recht viele Partnerschaften mit ausgewählten Fast Fashion Brands, aber die bieten uns eben auch die Möglichkeit, im Dialog permanent Missstände anzuprangern und Veränderungen einzuläuten. 

Bis vor ein paar Monaten war ich stets der Meinung, jede*r einzelne müsste etwas ändern, sollte Verantwortungsvoller mit seinem Konsum umgehen und Konsequenzen tragen. Aber weißt du was, Fabienne, mittlerweile macht sich Wut im Bauch breit, wenn ich diese Inkonsequenz in der Politik sehe oder diese Lachnummer von Klimapaket der Bundesregierung, die aus dem Begehren vieler Menschen entstand und reaktiv mit dem Ergebnis umgesetzt wurde, wieder niemandem auf die Füße zu treten. Es macht mich wütend zu sehen, dass junge Menschen belächelt werden, nachdem sich eine Gesellschaft jahrelang über ihren Politikverdruss aufregte. 

Vielleicht bewegen wir uns in einer Feel-Good-Nachhaltigkeitswelle, die manchmal scheinheilig ist, aber um konsequent eine sozialere und nachhaltige Umwelt zu etablieren, brauchen wir brauchbare Rahmenbedingungen, die, wie ich fürchte, nur von weiter oben kommen können. Und davon gibt es bekanntlich ja zig verschiedene Vorschläge. Sie müssen nur gehört werden.

3 Kommentare

  1. Gianna

    Liebe Fabienne, liebe Sarah, toll, dass ihr das Thema in diesem Rahmen thematisiert! (Freue mich auf noch mehr Meinungen, vom Rest-Team ;))
    Ich persönlich habe z. B. beim Autofahren mit dem Mietwagen (besitze selbst kein Auto) ein „schlechtes Gewissen“, auch wegen Feinstaub und wegen des Lärms – weil ich selbst an einer vielbefahrenen Straße lebe und unter dem Autoaufkommen jeden Tag leide.
    Ich finde, jeder Einzelne sollte nach wie vor so umweltfreundlich wie einem möglich leben. Aber wir sollten uns von dem schlechten Gewissen auf keinen Fall fertigmachen lassen, denn: Damit ist keinem geholfen und wir brauchen die Energie, jetzt und in Zukunft vielleicht noch mehr. Nämlich dafür, dass wir langfristig und stetig Veränderung einfordern und den Klimawandel-Leugnern gegenhalten können. Ich bin also absolut bei Sarah, wenn sie sagt, die Politik muss die Weichen stellen – aber richtig.

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    1. Sarah Jane

      Liebe Gianna,
      wir sprachen eben, genauso wie du, auch noch über das Thema „Langfristigkeit“. Denn es darf nicht sein, dass das Thema in fünf Jahren von einem neuen „Trend“ abgelöst wird – so wie einst in den 80ern. Das Thema (und viele weitere wichtige Debatten) muss in der breiten Gesellschaft an Relevanz gewinnen und es sich dort gemütlich machen.
      Wir hätten hier, wie du, noch mehr Bereiche aufzählen können, darum: Dank dir für deine Auto-Ergänzung!

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  2. Franziska

    Vielen Dank erstmal für diesen Beitrag. Gerne weiter mehr davon!
    Ich glaube es ist schon ein erster Schritt sich bewusst zu machen, dass es nicht ideal ist z.B. ein Paket bei H&M zu bestellen oder To-Go-Cups zu kaufen. Wenn man erstmal dieses Bewusstsein dafür hat und damit irgendwo ein schlechtes Gewissen entsteht, hat man die Möglichkeit sich nach und nach zu entwickeln. Wenn aber z.B. die eine Bestellung bei H&M durch zahlreiche 2-Hand-Käufe kompensiert wird und dann die gekaufte Kleidung nicht nur eine Saison getragen wird, sondern gepflegt wird, ist das ja auch schon mal sehr viel wert. Niemand wird über Nacht zum Umwelt-Helden, der wirklich alles richtig macht.
    Ich versuche wo es geht Plastik zu vermeiden – aber quer durch die Stadt zu einem Unverpackt-Laden zu fahren mache ich auch nicht. Ich benutze zu 99% Naturkosmetik und kaufe auch gerne Kleidung 2-Hand oder wenigstens bei z.B. Armedangels. Dafür bestelle ich zu viel online und lasse mir zu viele Pakete schicken, weil mir die Lust fehlt durch zahlreiche Geschäfte zu ziehen um das Richtige zu finden. Daran will ich aber arbeiten.

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